Brehms Tierleben eallgemeine Kunde des Tierreichs : mit 1800 Abbildungen im Text, 9 Karten und 180 Tafein in Farbendruck und Holzschnitt 2/2, str. 508

470 Vierte Ordnung: Hühnervögel.

Ruf wird von manchen Völkern „Geſang“ genannt; wir hingegen wenden zu ſeiner Bezeihnung Ausdrü>e, meiſt Klangbilder, an, die treffender ſind: unſere Sprache läßt die Hähne krähen, kollern, knarren, balzen, ſ<leifen, weßen, ſ<hnalzen, ſhnappen, worgen, kröpfen; an Geſang denkt niht einmal der Weidmann, in deſſen Ohre die Laute mancher Hähne angenehmer klingen als der Schlag der Nachtigall. Doch ſchreibt uns Wurm: „Oberbayriſche, ſteieriſche, livländer Weidmänner nennen das Balzlied des Auerhahnes Geſang und ſagen ex ſingt; au< ſhon Vater Döbel läßt den Auerhahn ſingen.“ Über die höheren Fähigkeiten läßt ſi<h ebenſowenig ein günſtiges Urteil fällen, Geſiht und Gehör ſcheinen ſcharf, Geſhma> und Geruch wenigſtens niht verkümmert zu ſein; über das Gefühl müſſen wir uns des Urteiles enthalten. Ein gewiſſes Maß von Verſtand läßt ſi<h niht in Abrede ſtellen; bei ſorgfältiger Beobachtung bemerkt man aber bald, daß der Verſtand nicht weit reiht. Die Hühner beweiſen, daß ſie zwar ein gutes Gedächtnis, aber wenig Urteilsfähigkeit haben. Sie lernen verſtehen, daß auch ſie von Feinden bedroht werden, ſelten aber zwiſchen dieſen unterſcheiden; denn ſie benehmen ſich den gefährlihen Tieren oder Menſchen gegenüber nicht anders als angeſichts ungefährliher: ein Turmfalke flößt ihnen dasſelbe Entſegen ein wie ein Adler, der A>ersmann oft dieſelbe Furcht wie der Jäger. Fortgeſeßte Verfolgung mat ſie nur ſcheuer, niht aber vorſichtiger, mißtrauiſcher, jedo<h niht klüger. Und wenn die Leidenſchaft ins Spiel kommt, iſt es mit ihrer Klugheit vorbei. Leidenſchaftlih in hohem Grade zeigen ſi< alle, auh diejenigen, welche wir als die ſanſteſten und friedlichſten bezeihnen. Den Hennen wird nahgerühmt, daß ſie ſih zu ihrem Vorteile von den Hähnen unterſcheiden; ſie verdienen dieſen Ruhm jedo< nur teilweiſe: denn auch ſie ſind zänkiſh und neidiſch, wenn niht wegen der Hähne, ſo doh wegen der Kinder. Sie, die ihre Küchlein mit erhabener Liebe behandeln, ſih ihretwegen der größten und augenſcheinlihſten Gefahr ausſeßen, ihnen zuliebe hungern und entbehren, die ſelbſt fremdartigen Weſen zur treuen Mutter werden, wenn dieſe dur< die Wärme ihres Herzens zum Leben gerufen wurden, kennen kein Mitgefühl, keine Barmherzigkeit, kein Wohlwollen gegen die Kinder anderer Vögel, die Küchlein anderer Hennen: ſie töten ſie durh Shnabelhiebe, wenn ſie au< nur argwöhnen, daß die eigne Brut beeinträchtigt werden könnte. Jm Weſen der Hähne tritt der Widerſpruh zwiſchen guten und ſ{hle<ten Eigenſchaften noh ſchärfer hervor. Jhre Geſchlechtsthätigkeit iſt die lebhafteſte, die man unter Vögeln überhaupt beobachten kann: ſie leiſten in dieſer Hinſicht Erſtaunliches, Unglaubliches. Die Paarungsluſt wird bei vielen von ihnen zu einer förmlichen Paarungswut, wandelt ihr Weſen gänzlih um, unterdrü>t, wenigſtens zeitweilig, alle übrigen Gedanken und Gefühle, läßt ſie geradezu ſinnlos erſcheinen. Der paarungsluſtige Hahn kennt nur ein Ziel: eine, mehrere, viele Hennen. Wehe dem Gleichgeſinnten! Jhm gegenüber gibt es keine Schonung, ihm zuleide werden alle Mittel angewendet. Kein anderer Vogel bekämpft ſeinen Nebenbuhler mit nachhaltigerer Wut, wenige ſtreiten mit gleicher nie ermattender Ausdauer. Alle Waffen gelten; jedes Mittel ſcheint im voraus gerechtfertigt zu ſein. Zum Kampfe reizen Schönheit und Stimme, Stärke, Gewandtheit und ſonſtige Be: gabung; gekämpft wird mit einer Erbitterung ohnegleichen, unter gänzlicher Mißachtung aller Umſtände und Verhältniſſe, unter Geringſchäßung erlittener Wunden, glü>lih überſtandener Gefahr; gekämpft wird im buchſtäblihen Sinne auf Leben und Tod. Jm Herzen beider Kämpen herrſcht nur das eine Gefühl: den anderen zu ſchädigen an Leib und Leben, an Ehre und Selbſtbewußtſein, an Liebesglü> und Liebeslohnung. Alles wird vergeſſen, ſolange der Kampf währt, auch die Willigkeit der Henne, die dem Ausgange des Kampfes ſcheinbar mit der größten Gemütsruhe zuſieht. Die Eiferſucht iſt furchtbar, freilih auch begründet. Cheliche Treue iſt ſelten unter den Hühnern. Die Henne verhält ſi< den Liebesbewerbungen des Hahnes gegenüber leidend, aber ſie maht in ihrer Hingabe ebenſowenig