Brehms Tierleben eallgemeine Kunde des Tierreichs : mit 1800 Abbildungen im Text, 9 Karten und 180 Tafein in Farbendruck und Holzschnitt 5, str. 803

Luftreiſen der Spinnen. 721

erwachſen ſind. Während des Umherlaufens werden immer einige Fäden geſponnen, welche an dem Untergrunde haften und der Spinne zum Anhalten dienen. Hat fie nun das Verlangen, eine Luftfahrt anzutreten, ſo heftet ſie an einer Stelle einen Faden feſt und geht in einer geringen Seitenwendung, die Hinterleibsſpiße hoch emporgerichtet, wenig vorwärts, dem Luftzug entgegen, und ſtellt ſi< dann, die Beine ſteif ausgeſtre>t und möglichſt ho<gehalten, feſt. Der ausfließende Faden bildet eine Schlinge, welche ſi flatternd in dem Maße verlängert, als der Luftzug ihn geſpannt erhält. So ſcheint alſo die Spinne den Faden auszuſchießen. Jſſt er 2—3 m lang, ſo beißt ihn die Spinne am feſtgeklebten Ende ab, läßt mit den Füßen los, zieht dieſelben an, und langſam gleitet der Faden dahin, geführt von einer leiſen Luftſtrömung, die ſtets vorhanden iſt und von der Spinne mit ihrem feinen Gefühl für ihre Zwe>e benußt wird. Vielleicht geht die Reiſe niht weit, indem der Faden irgendwo hängen bleibt und die Geſtrandete nötigt, wieder feſten Fuß zu faſſen. Visweilen führt die Fahrt aber auh weiter; Darwin ſah, 60 Seemeilen vom Lande entfernt, auf dem Schiffe Tauſende von kleinen rötlichen Spinnen in dieſer Weiſe ankommen, und Liſter beobachtete ihre Flüge wiederholt hoh über ſi< von der höchſten Stelle des York-Münſters. Um jedo<h nicht zu ewiger Luſftreiſe verdammt zu ſein, hat die Spinne ein ſehr einfaches Mittel, zur Erde herabzukommen: ſie braucht nämlih nur an ihrem Faden hinaufzuklettern und ihn dabei mit den Beinen zu einem weißen Flöckchen aufzuwi>eln, ſo kommt er allmählich, gleich dem Fallſchirme eines Luſftſchiffers, auf die Erde zurü>. Die Flo>en fallen bisweilen in überraſchenden Mengen aus der Luft herab, und in ſehr vielen Fällen wird man eine Spinne darin auffinden, in anderen au niht; denn der eben geſchilderte Vorgang gelingt in ſo und ſo vielen Fällen niht, namentlich bei Vorhandenfein einer ſehr großen Menge von Spinnen; die Fäden vereinigen ſich, bilden nach und nach den Shneeflo>en ähnliche Knäuel, werden vom Winde abgeriſſen und in der Luft umhergeführt. Das Aus\chießen der Fäden in der angegebenen Weiſe iſ ſehr wohl begreiflih, nur darf man es ſi nicht ſo vorſtellen, als wenn die Spinne einen Faden aufs Geratewohl in die Luft hinausſprißzt. So zauberhaft am Morgen, wenn die Tautropfen darin erglänzen, jenes Flormeer erſcheint, welhes Stoppel-, Brachfelder und Wieſen überſirömt, ſo läſtig kann es auf leßteren in ſolchen Gegenden werden, wo man erſt ſpät an das Mähen des Grumts geht; denn dieſes wird dadurch allmählich von Feuhtigkeit durchdrungen, fo daß es den Tag über niht tro>nen ftann. Hierdur< werden die ſonſt im Dienſte des Landwirtes ſtehenden Spinnen, deſſen Feldfrüchte ſie von manchem \{hädlihen Inſekt befreien, ſtellenweiſe re<t läſtig. Jm Frühjahr, wenn die Spinnen ihre Winterquartiere verlaſſen, wiederholt ſih dieſe Erſcheinung als „Mädchenſommer“, aber in weit beſhränkterem Maße und zwar nicht nur bei uns zu Lande, ſondern auch in Paraguay, wo es Rengger beobachtet hat, und gewiß auh anderwärts.

Mehr Luſftſchiffer als die Krabbenſpinnen liefert die Familie der Wolfsſ\pinnen (Citigradae, Lycosidae), welche gleichzeitig durch die anſehnliche Größe einzelner ihrer kräſtigſten Arten für unſere gemäßigten Gegenden die Buſchſpinnen der Gleicherländer vertritt. Die Wolfsſpinnen, um die neuerdings vielfa<h aufgelöſte Gattung Lycosa ſi ſ[harend, ſind auf der ganzen Erde verbreitet und dur ihre äußere Erſcheinung, ihre Größe, die Schnelligkeit ihres Laufes, welche die langen Beine bedingen, die Wildheit ihrer Bewegungen, das plößliche und unerwartete Hervorſtürzen unter einem aufgehobenen Steine oder aus einem anderen Schlupfwinkel, in welchem ſie geſtört wurden, mehr als die meiſten

anderen Spinnen dazu angethan, ein Vorurteil und einen geheimen Abſcheu gegen das Brehm, Tierleben. 3, Auflage. IX. 46