Die Physiognomie des Menschen

10. Die Miene.

Wir wollen jetzt die Miene besprechen, worunter man das Gesicht insgesamt, seine Bewegungen und seine ganze Gestalt nebst den in ihm zum Ausdruck kommenden Seelenregungen versteht; danach die einzelnen Teile, die die Miene bilden. Es gehören alle Gesichtsteile hierher, Augen, Stirn, Nase usw. In der Miene steht unser Gewissen geschrieben, jedoch ungenau und nicht für alle Fälle bindend, da sich ihr Aussehen nach der Gemütslage richtet, die durch sie verheimlicht oder verraten werden kann. Man kann die Menschen jederzeit annähernd nach ihrer Miene beurteilen, nur dann nicht, wenn sie schon gleichsam versteinert ist. Polemon und Adamantius schreiben: In der Miene stehen deutlich geschrieben Hochherzigkeit und Unfreigebigkeit, Rechtschaffenheit und Frevel, Kummer, Eifer und Bildung, Gefälligkeit und Trauer, Wachsamkeit und Verschlafenheit usw. je nach der Natur des Betreffenden; danach muß ein jeder die Physiognomik erlernen. Meletius sagt: Das Angesicht verrät leicht die Regungen des Herzens. In der Freude erscheint es heiter und froh, in der Trauer trübe und verwirrt, im Zorn blaurot und rasend. In der Heiligen Schrift steht geschrieben: „Ein freudiges Herz hat ein frohes Gesicht, die Trauer aber sieht unter sich und entstellt.“ Jakob erkennt im Gesichte Labans dessen Haß und, zu seinen Frauen gewandt, sagt er: „Ich habe im Gesicht eures Vaters gesehen, daß er mir gegenüber nicht mehr ist wie gestern und ehegestern.“ Bei Abneigung wendet man das Gesicht ab, während Liebe und Wohlwollen froh, heiter und freundlich blikken. Cicero sagt zu Piso: „Deine Augen und Miene, die stumme Sprache der Seele, haben mich nicht getäuscht.“ Die Miene ist der Spiegel der Seele, und bisweilen plaudern die schweigenden Augen die tiefsten Geheimnisse des Herzens aus.

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