Die Physiognomie des Menschen

1. Der Gerechte und der Ungerechte.

Die erste und größte Tugend des Verstandes, die alle anderen umfaßt, ist die Gerechtigkeit. Der Gerechte denkt und handelt rechtmäßig. Die Gerechtigkeit ist vollkommen, nicht unbedingt, aber gegen andere Tugenden gehalten. Es genügt nicht, gegen sich selbst gerecht zu sein; wahre Gerechtigkeit sieht besonders auf das, was anderen Menschen, Fürst und Staat zugute kommt und ist ein unteilbares Ganzes. Die Ungerechten denken und handeln unrechtmäßig. Ungerechtigkeit ist ein sehr schlimmer Fehler. Bei den alten Physiognomikern finden wir nichts über die Gestalt des Gerechten und Ungerechten. Wir müssen die hie und da verstreuten Merkmale selbst zu einem Ganzen zusammenfügen. Nach Chrysipp stellten die alten Maler und Redner das Bild der Gerechtigkeit folgendermaßen dar: Mund, Augen und Gesicht ehrwürdig, Form und Gestalt jungfräulich, Blick streng und ernst, Augen mit einem Ausdruck nicht niedergeschlagener oder wilder, sondern ehrwürdiger Trauer. Der Richter, der Priester der Gerechtigkeit, soll gelassen sein und ehrwürdig, streng, unbestechlich, Schmeicheleien unzugänglich, unnachsichtig und unerbittlich gegen gottlose Frevler, aufrichtig, machtvoll und gebietend durch sein Gefühl für Billigkeit und Wahrheit. Die Gerechtigkeit ‘heißt jungfräulich zum Zeichen, daß sie unversehrt sei, den Bösen nichts gestatte und weder Schmeicheleien noch Entschuldigungen noch Fürbitten annehme. Ihre Miene ist ernst, ihr Blick straff und drohend, den Ungerechten Schrecken,

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