Europa und Asien : oder Der Mensch und das Wandellose : Sechs Bücher wider Geschichte und Zeit

Ich stelle nun neben diese zufällig herausgegriffenen Zeitungsnotizen einen ‚Stimmungsbericht aus St. Moritz im Engadin‘ im ‚Berliner Tageblatt‘ vom gleichen Tage:

‚In Rot und Weiß, in Blau und Gold, in allen nur möglichen Kombinationen. bewegt sich das internationale Publikum im Schutze dieser herrlichen keuchen Hochgebirgsnatur. Die cer&me der europäischen Gesellschaft, aus England, Rußland, Deutschland, Frankreich, Spanien, Italien, den skandinavischen Ländern ist hier gegenwärtig versammelt zum Wintersportvergnügen. Man sieht viele europäische Berühmtheiten und Staatsoberhäupter darunter. Immer gibt es etwas Überraschendes und Neues. Man trifit sich nach getanem Tagewerk, heiter angeregt vom Schneeschuhsport, beim Lunch oder zum afternoon-danzing-tea bei Hanselmann oder im Rosaitsch. ‚Bim bam bum da da dätätä‘ schallt und quiekst, hämmert und schrillt das Jazz Band seine Nigger-Naturallaute. Slimmy ist ‚le dernier cri de St. Moritz‘. Foxtrott, Tango und One Step finden einzig noch Gnade. — Zwischen 6 und 7 Uhr aber ist alle das wilde Spiel zu Ende. Dann müssen wir wieder Smoking und Balltoilette hervorziehen. Nun sind wir endlich wieder Kulturmenschen. Rauschende Seide, Plüsch und Pelzmäntel knistern, rauschen und strahlen. Die Gästeschlitten klingeln heran. Myriaden Lichtfünklein flüchten durch türähnliche Riesenfenster und verkünden, daß das große orientalische Maskenfest begonnen hat. Nachdem wir tagsüber wohl alle die Natur und das Naturmenschentum genügend genossen und ausgekostet haben, kann man sich jetzt an allen Vorzügen der Kultur weiden, und wer tagsüber sich genügend abgemüht und abgearbeitet hat auf den weiten Schneeflächen der herrlichen Alpenwelt, fühlt nun: das herrliche Nachtleben der Großstadt hat doch auch seine Reize.‘ s

Dieses alles wären nur kleine Striche zum Bilde der vom Naturinstinkt abgelösten, auf die menschliche Logik und Etik gestellten Willensweit. So sieht diese Welt aus. Niemand findet, wie die Weisen der Vorzeit, in seinem Ich das All wieder. Aber ganze Heerden von Begrifilern, Geistlern und Vernünftlern benützen das gesamte All als Spiegel für ihre starke Persönlichkeit. Die Natur wurde uns Feind, weil wir durchaus nicht mehr zu ihr gehören, sondern sie als ‚geistige Wesen‘ zu unserm Schemel, unserm Sachwert und Gegenstande gemacht haben, indem wir selber aus dem Element fordernd herausgetreten, alles Leben als Geschehniß in der Zeit und mithin als eine Mechanik betrachten. ‚Warum doch fürchtest Du Dich?‘ so fragte der letzte Weltweise Swami Vivekananda, ‚da Du selber ja alles Das bist, was Dich fürchten macht‘.

Zu einem Brahmanen kam ein Jünger und klagte: ‚Wie ungerecht ist diese Erde, wie grausam! Meinen Bruder, das reine Herz hat die Kobra gebissen!‘ Aber der Weise erwiderte mit großem Ernste: ‚Er hat wohl nicht die ganze Schlangenwelt mit ganzer Liebe umfaßt‘,