Europa und Asien : oder Der Mensch und das Wandellose : Sechs Bücher wider Geschichte und Zeit

drohende Schneide nicht aus dem Stamme herausgezogen werden, denn der Baum würde dabei verbluten. Aber niemand darf behaupten, daß ein Schwert im Herzen der Weltesche das Merkmal sei für ihre Gesundheit.‘

Dieses wunderliche Bekenntnis bekam den Preis. Der es ablegte hieß Jean Jacques Rousseau und hatte bis dahin als Gärtner, Diener und Schreiber ein mühsäliges und notiges Leben gelebt. Aus seinem Ruhme erblühte das Zeitalter der Kulturflucht. Dichter und Träumer, von Chateaubriand bis Lenau flohen aus des Abendlandes machtwachsenden Städten in Virginias noch iugendfrische Wälder, in Afrikas traumschwere Savannen, in die himmelnahen Gebirge Asiens oder zu den weltverlorenen Inseln der Südsee. Sie entliefen den ihnen widerwärtigen Masken, Spiegeln und Käfigen der Kultur.

Was aber ist das: Kultur? i

Sprechen wir von Kulturpflanze und Kulturtier, Kultur des Ackers oder des Leibes, immer meinen wir: bewußte Pilege und Bindung; immer: gewolltes Bändigen eines Naturtriebs; immer: die Übermächtigung des Lebens durch wachen Geist. Die endlos unerdenkliche Traumilut des Lebens soll sinnfällig berechenbar gemacht werden, wie die Musik ein nur fühlbares rhytmisches Gewoge auffängt und formend bindet in die geistige Freude zahlenmäßiger Harmonie. Aus sinnlosem Lebenselement entschöpft der Geist: die Wirklichkeitswelt seines Sinnes. Vermittels der ihm eigenen Greifarme, Schöpikellen und Fangnetze: Name und Form. (näma-rupa.)

So wäre denn also die Welt des Bewußtseins: eine menschliche Tat? So wäre Wirklichkeit ... Werklichkeit? "Ja! —

Dennoch ist es ein Vorurteil, dieses klärende Ausbegleichen des Lebens von vornherein zu denken als zweckbesessene Gewalttat von seiten menschlichen Urteilsvermögens. Der Verstand ist nicht nur Versteller; Vernunft nicht nur der jeindliche Widerdämon, welcher eindringt in das ‚Leben‘, damit es zu ‚Welt‘ vergletschere und verglase. Vielmehr ist es beinahe gewiß, daß die formend bindende Gewalt auch des vorbewußten Elements, jene Bildkrait, welche Weltstoff gestaltet zu bestimmtem Pilanzenleib und Tiergestalt, jener unbewußte Zeugungstrieb, welcher überall obwaltet dank besrenzender Bindung eines Grenzenlosen ... - daß diese vorbewußt schöpferische Lebensschwunggewalt mindestens angehört der selben Natur, wie das bewußt formende und willkürliche Bildungsvermögen der Menschen.