Geschichte der neuesten Zeit 1789 bis 1871

264 Neueſte Geſchichte. 2. Zeitraum.

hätte unfehlbar nah und nach ſtattgefunden, und es wäre zuleßt au< diesmal, wie ſchon oft in der Geſchichte, aus einer Verſchmelzung von urſprünglich feindlichen Elementen eine neue Geſtaltung des politiſchen und ſocialen Organismus hervorgegangen , wenn dieſe von der konſti= tutionellen Charte Ludwig XVIIT. vorbereitete Verſöhnung durch Napoleon’'s gewaltſame Dazwiſchenkunft nicht verhindert, der Bruch vergrößert, und die Parteien no< weiter als bisher von einander entfernt worden wären.

Ludwig XVI. hatte bei ſeiner Rückkehr Vergeſſen alles früher Geſchehenen und gleiches Geſetz und Recht für alle Klaſſen verſprochen, und in der von ihm verliehenen Verfaſſung dieſe Verheißung beſiegelt. Aber es war nicht wohl möglich, daß nicht die beiden Stände, Adel und Geiſtlichkeit, die von der Nevolution mit Vernichtung bedroht geweſen, und die mit dem alten Königshauſe dur gemeinſam erfahrene Drang= ſale geiſtig immer verbunden geblieben, von deſſen Wiederherſtellung eine Verbeſſerung ihrer eigenen Lage erwartet hätten. Für vie höheren Kaz tegorien des Klerus und Adels war durch die Bildung einer Pairskam= mer geſorgt und ihnen dadurch ein beſtimmter politiſcher Einfluß zuge= ſichert worden , den ſie unter dem früheren Abſfolutismus nie in regel= mäßiger Weiſe ausgeübt hatten, Aber unter der niederen Geiſtlichkeit und dem kleineren Adel, denen keine ſolche Entſchädigung werden fonnte, träumte man häufig von einer wenigſtens theilweiſen Erneuerung der alten Standesvorrechte, wozu bei der Regierung weder die Abſicht, noh in den neuen Zuſtänden eine Möglichkeit vorhanden war. Viele Pre= diger mißbrauchten die Kanzel zu Angriffen auf Alles, was unter dex Revolution und dem Kaiſerreich entſtanden war, und traten beſonders gegen die Eigenthümer der ehemaligen Kirchengüter drohend auf. Unter dem unwiſſenden und mißtrauiſchen Landvolke mancher Gegenden verbreitete ſi< das Gerücht von einer Wiederherſtellung des Zehnten und erregte böſes Blut.

Am Hofe und in der Hauptſtadt ſtießen ſi der alte und neue Adel, und vornehmlich die im franzöſiſchen Leben eine ſo thätige Rolle ſpielen= den Frauen dieſer Kreiſe ab. In den Provinzen erinnerten ſich die ehe= maligen Gutsherren der Abhängigkeit, in der einſt die zu gleihberetig= ten Nachbarn gewordenen Landleute zu ihnen geſtanden. Die Anmaßung der Einen rief die Abneigung der Anderen hervor. Es waren dies Alles indeſſen mehr Ne>ereien als ernſte Streitigkeiten. Denn einmal war es nur eine gewiſſe ¿ußerſte Partei in Klerus und Ariſtokratie, die ſich zu dem Beſtehenden in einem unausgleihbaren Gegenſatze fühlte, und dann