Geschichte der neuesten Zeit 1789 bis 1871

330 , Neueſte Geſchichte. 2. Zertraum.

mit Lucian in ein einſames Gemach des Palaſtes zurü>, und diktirte am ‘Nachmittage des 22. Juni den Aft, durch den er dem Throne zu Gunſten ſeines Sohnes entſagte, den ex als Napoleon IT. proklamirte, und zugleich die Hoffnung ausſprach, daß die verbündeten Mächte mit dieſem Opfer zufriedengeſtellt werden würden.

Dieſes Dokument wurde alsbald nach den beiden Kammern gebracht. Obgleich Napoleon unter den Repräſentanten ſeine entſchiedenſten Gegner hatte, ſo ward glei<wohl unter ihnen fein Frohlocken über den davon getragenen Sieg vernommen. Der Fall einer ſolchen Größe erregte zuletzt doh Theilnahme. Unter den Pairs, wo es viele perſönliche Anhänger ‘Napoleon's gab, war dies noh mehr der Fall. Beide Kammern votirten Adreſſen an den Kaiſer, die ihm den Dank der Nation für den gethanen Shritt ausſprachen, und die ihm noc denſelben Abend überreicht wurden.

Napoleon, bei dem die vorhergegangenen Tage über beſtändig eine fieberhafte Aufregung mit einer tiefen Abſpannung gewechſelt hatte, ward jeßt, als die Entſcheidung gefallen, wieder ſich ſelbſt zurückgegeben. In einem matt erleuchteten Saale des Palaſtes empfing er, aufre<t ſtehend, mit unbewegter Miene die Deputationen der Kammern. Diz der Repräſentanten beſtand großentheils aus ſolchen, die an ſeinem Sturz gearbeitet, die der Pairs aus ſolchen , die ihn ſchwach unterſtützt hatten. Faſt alle waren ihm früher auf dieſe oder jene Art verpflichtet geweſen, hatten von ihm Gunſtbezeugungen oder Wohlthaten empfangen. Selb de la Fayette war nur durch ſeine Verwendung aus der Gefangenſchaft in Olmüß befreit worden. Seine Willkührherrſchaft und die Gewalt der Umſtände hatte ſie zu ſeinen Gegnern gemaht. Die Erinnerung an die Vergangenheit und die Bedeutung des gegenwärtigen Augenbli>es veranlaßte ſie jedo<, gegen den Gefallenen eine ehrerbietige Haltung anzunehmen , und ſelbſt ſeinen Tadel und ſeine Vorwürfe zu ertragen. Er ſpra< mit Ruhe, ſogar mit Gleichgültigkeit von ſeinem eigenen Schiſal, hob aber mehrmals gegen die Deputation der Kammern die Bedingung , unter der er allein abgedankt hatte, die Anerkennung ſeines Sohnes, hervor, ein Umſtand, der in den Adreſſen unberührt geblieben. Er hielt ſich bei dem Schiffbruch , ven er erlitten, an der Hoffnung , der Gründer einer Dynaſtie zu ſein, wie an einem letzten Brett feſt, ohne zu ahnen, daß ſeine wahre Bedentung von anderer Art war. Obgleich Männer wie de la Fayette, Lanjuinais , Fouché aus der Revolution her an tragiſche Scenen gewöhnt, und Napoleon im Herzen entſchieden ab= hold waren, fo konnten ſie ſich bei dieſer leßten Zuſammenkunft mit ihm des Eindru>es ſeiner perſönlichen Größe niht erwehren.