Gesicht und Charakter : Handbuch der praktischen Charakterdeutung : mit zahlreichen Kunstdrucktafeln, Zeichnungen und Bildtabellen

sehenen ist, der das Auge ausspannt, wird auch die allgemeine Neigung einer Persönlichkeit, sich von Gefühlen überwältigen zu lassen, ihr Auge dauernd und physiognomisch weiten. Nicht zuletzt dieser Umstand läßt das Auge zu einem Spiegel der Seele werden. Wo jene Gefühle sich unverhohlen, d. h. ohne jede Abdeckung aussprechen, da gewinnen wir geradezu den Eindruck der seelischen Offenheit, und wenn wir nach Gesetzen der Charakterkunde weiter schließen, der Reinheit (Lessing VII, 2), der Unschuld (Baby I, 2) und Naivität. Da Dichter und Komponisten nicht nur für die äußere Reizwelt sehr empfänglich, sondern auch reich an Gefühlen und Leidenschaften sind, trifft man das offene Auge so oft bei ihnen an.

Betrachten wir das Auge Shakespeares auf den drei Bildern II, 7—9, wobei wir zunächst gar nicht danach fragen, ob diese Bilder authentisch sind oder nicht. Offen ist das Auge auf allen dreien, am wenigsten jedoch im dritten Bild, wo es fast eine abgedeckte Einstellung aufweist; das würde auf eine Gefühlsarmut deuten, die wir bei Shakespeare durchaus nicht erwarten können: hier überwiegt die Willenseinstellung. Im ersten Bild haben wir eine normal offene Einstellung als Ausdruck großer, gefühlsbetonter Empfänglichkeit. Komplizierter mutet jedoch das zweite Bild an. Zunächst ist, an der Breite des Oberlidbandes und an der Stellung der Augenbrauen gemessen, eine gewisse mittlere Einstellung vorhanden, die Empfänglichkeit mit Willensstärke vereint. Sodann aber sind Spannung und Gegenspannung im Augenbogen besonders stark und verraten, indem sie eines scharf auf den Kontakt mit dem Beschauer gerichteten Angriffsmomentes nicht entbehren, die tiefe Beziehung zu menschlichen Trieben und Leidenschaften. In diesem reichen Zusammenspiel von Empfänglichkeits-, Willens- und Lei-

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