Gesicht und Charakter : Handbuch der praktischen Charakterdeutung : mit zahlreichen Kunstdrucktafeln, Zeichnungen und Bildtabellen

Der verhängte Blick

Hier überwiegt die Schließneigung, ohne jedoch wie beim abgedeckten Blick gegen eine nennenswerte Öffnungsneigung ankämpfen zu müssen. Daher fallen die Lider schlaff herab; auch hier ist die Spannungslosigkeit deutlich zu erkennen. Wenn die Vergine (IV, 6) ihre Augen niederschlägt, so ist die Augenspalte nicht quergespannt wie beim zugekniffenen Auge (Tom XIV, 6), sondern ihre Kontur schwingt sich in leichtem, hängendem Bogen; keineswegs in der kürzesten Linie zwischen den beiden Endpunkten. Man stelle sich eine Kette vor, das einemal straff gespannt, das anderemal frei durchhängend, und man wird verstehen, daß man an diesen beiden Formen Spannung und Spannungslosigkeit unterscheiden kann.

Die Verhängtheit, als Fluchteinstellung, bedeutet allgemein die Flucht vor Reizen. Vielleicht bloß Flucht vor der Außenwelt wie bei der Vergine; hier deuten die gelösten Formen, auch die des Mundes, auf eine innerlich eher offene Einstellung, der jede Konzentration abgeht; daher bleibt hier noch immer die Zuwendung zu einer inneren Welt bestehen, und wir schließen auf Träumerei. So weit kann dieses Untertauchen ins Unbewußte gehen, daß, wie auf dem Bild des älteren, todkranken Heine (VIII, 9) die Augen gänzlich geschlossen sind. Dennoch merken wir, daß dieser Mensch nicht schläft, er versinkt bloß in der Nacht, die ihn bald wirklich gänzlich umfangen wird. Ähnliche Versunkenheit hüllt das Antlitz des Arbeitslosen ein, der es nicht fassen kann, daß 1931 Jahre nach Christi Geburt eine Weihnacht im kalten Zimmer bei Wasser und Brot gefeiert werden sull (XV, 4).

Hingegen kann die Abkehr von der Außenwelt auch durch die konzentrierte Zuwendung zu einer inneren Welt der Gedanken verursacht sein. Dann sind, trotz der Verhängtheit des Blickes, doch reichlich Spannungszüge vorhanden, deren

98