Gesicht und Charakter : Handbuch der praktischen Charakterdeutung : mit zahlreichen Kunstdrucktafeln, Zeichnungen und Bildtabellen

Auf weit niedrigerer Stufe — auf tieferem Formniveau, würde Klages sagen — liegt ein ähnlicher Sachverhalt bei dem trägen Blick vor, der mit gewaltsamer Anstrengung der Stirn sich bemüht, die Augen offen zu halten: Ausdruck der Begriffstützigkeit (Fig. 16).

Eine Spielart des verhängten Blickes ist der hochmütige Blick des Blasierten, der kaum durch das halbgeöffnete Auge zu dringen geruht. Hier bleibt noch immer ein gewisser optischer Kontakt — man muß sich doch in der Welt orientieren, um nicht zu stolpern —, aber es wird ihm alles Interesse, ja alle Aufmerksamkeit entzogen (Borsig III, 4). Oder der Blick der Distanziertheit mondäner Damen (Greta Garbo in „Wilde Orchideen“ X, 1). Doch wer möchte hier unterscheiden, ob diese Distanz willkürlich ist oder unwillkürlich! Schafft doch oft schon das Untertauchen der weiblichen Seele in die unbewußten Tiefen der sinnlichen Leidenschaft jene Distanz und ihren verhängten Ausdruck zugleich!

Und jetzt erkennen wir noch etwas Entscheidendes: daß auch der Kontakt in der gewöhnlichen abgedeckten Betrachtung nicht bloß ein visueller, sondern zugleich ein Aufmerksamkeitskontakt sein muß, d, h. es findet sich eine Schicht von Spannungswellen, deren Zentrum uns bis in die tiefste Seele unseres Partners führt, den wir so betrachten und beschreiben. Ein großer Teil der Lebhaftigkeit des Kontaktblickes, wenn also Blick in Blick taucht, beruht nicht bloR darauf, daß die beiden Sehlinien, d. h. die Verbindungslinien der Pupille mit der Stelle des deutlichsten Sehens auf der Netzhaut, zusammenfallen, sondern auch darauf, daß dieser visuelle Kontakt noch verstärkt wird durch einen Aufmerksamkeitskontakt, den wir von Hirn zu Hirn gespannt sein lassen.

Ja, seinen Triumph feiert das Ausdrucksvermögen der menschlichen Physiognomie sowie auch unsere Gabe, es zu beurteilen, darin, daß-ein Aufmerksamkeitskontakt bestehen

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