Gesicht und Charakter : Handbuch der praktischen Charakterdeutung : mit zahlreichen Kunstdrucktafeln, Zeichnungen und Bildtabellen

I. TEIL

ALLGEMEINE EINFÜHRUNG

1. Kapitel: EINLEITUNG

Was kann man vom Gesicht seines Mitmenschen ablesen?

E. T. A. Hoffmann erzählt in einer seiner schönsten Novellen „Der goldene Topf“, wie ein schwärmerischer Jüngling Schreiberdienste versieht und ein schwarzes Zeichen nach dem anderen in fremder, ihm unverständlicher Schrift vor sich aufs Papier malt. Plötzlich ist es ihm, als würden die Buchstaben lebendig, die Wände des Zimmers täten sich vor ihm auf und er sähe alles leibhaftig vor sich, was die Zeichen ausdrücken sollen, Palmenwälder, einen Geisterreigen... Schwarze, engbeschriebene Zeilen — und in millionenfache Wirklichkeit versetzen sie uns, eröffnen alle Perspektiven des Raumes und der Zeit, führen uns ins Weltall, in tausendjährige Vergangenheit und ins Menschengewühl der Gegenwart. Wenn tote, schwarze Zeichen auf weißem Papier so viel vermögen, wieviel mehr müßten erst die Zeichen sagen können, die das Leben selbst ins lebendige Antlitz der Menschen geschrieben hat! Sollte es nicht möglich sein, daß sich auch uns die unverständlichen Zeichen offenbaren und das Geisterreich der fremden Seelen uns sichtbar würde? Die schwarzen Buchstaben in den Büchern können lügen, die Schrift im Menschenangesicht belügt uns nicht. Könnten wir sie entziffern, wie mächtig, wie wertvoll wäre diese Kunst!