Gesicht und Charakter : Handbuch der praktischen Charakterdeutung : mit zahlreichen Kunstdrucktafeln, Zeichnungen und Bildtabellen

Die glatte Stirn

So ist die glatte Stirn die tabula rasa, auf der keinerlei Ausdrucksspuren vorhanden sind; vornehmlich jugendliche Physiognomien weisen sie auf, und echt ist sie meistens nur dort (Baby I, 2; Lina IV, 7; Darling IV, 4). Tritt sie bei älteren Personen auf, so deutet sie wohl meistens auf Primitivität, wenn nicht darauf, daß hier der Gesichtsausdruck die Zustände der Seele nicht zeigt, sondern verbirgt, daß es sich um eine Maske handelt. Vor allem aber ist davor zu warnen, Porträts nach ihrer faltenlosen Stirn zu beurteilen, denn dort ist sie in den meisten Fällen Retusche. Unter 100 Frauenbildnissen findet man meist 98 ohne Stirnfalten, wenigstens ohne Querfalten. Die zwei kleinen Längsfalten, ebenso herabgezogene Augenbrauen, werden auf Porträts noch eher geduldet, soweit man bei den modernen Frauengesichtern noch von Augenbrauen sprechen kann. Der Strich, durch den sie meist ersetzt werden, wird ohnehin höher angesetzt, um die Augen offener erscheinen zu lassen (Anny Ondra X, 8; Martha Eggerth X, 5).

Bei unserm Baby (I, 2) also ist die glatte Stirn glaubhaft, obwohl der Ausdruck der Aufmerksamkeit eigentlich auch hier quere Falten zuließe. Auf den Mädchenbildern IV, 4 und 7 macht die faltenlose Stirn den Eindruck der Jugendlichkeit, bei Josma Selim (X, 9) den des ewig jungen Frohsinns, bei unsrem Modell (IV, 2) den der inneren Ruhe und Heiterkeit, bei Elga Brink (X, 9) den einer, wenn auch nicht ganz ungewollten Naivität, Wie man sieht, lauter Eigenschaften, die mit dem Kindesalter die Freiheit von Leiden und Leidenschaften gemein haben. Für das Denken stellt also die glatte Stirn eigentlich eine verhängte Einstellung vor, wie sie sich auch sonst etwa mit der Verhängtheit der Träumerei sehr wohl verträgt (Vergine IV, 6).

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