Gesicht und Charakter : Handbuch der praktischen Charakterdeutung : mit zahlreichen Kunstdrucktafeln, Zeichnungen und Bildtabellen

Waagrechte Falten

Wie überflüssig das Beginnen ist, durch Retuschen den Kopf zu idealisieren, zeigt das Porträt von Richard Strauß (IX, 7), das eben durch die queren Stirnfalten, welche von der offenen Einstellung gefordert werden, nur um so mehr ins Menschliche gerückt erscheint. Geradezu mit Stolz trägt die Querfalten der Philosoph Schopenhauer (Fig. 23) zur Schau. Da enthüllen sie auch ihre tiefste Bedeutung: sie gehören, als aufgezogener Vorhang der Seele, zur offenen Einstellung des umfassenden Denkens.

Wie beim Aufreißen der Augen, gibt es auch für die Stirn ein solches unwillkürliches Aufreißen der Furchen durch unwillkommene Eindrücke der Seele, besonders wenn im Laufe eines schicksalsreichen Lebens die Abwehr ermattet: so werden die Querfalten der Stirn auch die Narben der Sorge und, im Gegensatz zur glatten Stirn, das Wappen des Alters. Noch rührender und menschlicher wird der Ausdruck, wenn sich zur Wehrlosigkeit der Sorge die offene Einstellung des Nachsinnens gesellt (Taglöhner XVI, 4).

Senkrechte Falten Es gibt aber auch ein Denken, das seine Furchen senkrecht

wie Flammenlinien zwischen den Augenbrauen aufsteigen läßt (Spinoza Fig. 25), ja eigentlich ist keine vollkommene Denkerstirn von diesem Male frei (Schopenhauer Fig. 24). Wie unterscheidet sich das Denken mit queren von dem mit senkrechten Stirnfalten? Die letzteren sind, vom Augenbrauenrunzler bewirkt, ein Zeichen der Abdeckung, auch der inneren Abdeckung; alles, was nicht zu meinem Denkgegenstand gehört, soll ferngehalten werden. Daher sind die senkrechten Stirnfalten das Zeichen eines konzentrierten Denkens, die queren aber die eines unkonzentrierten Sinnens, das

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