Gesicht und Charakter : Handbuch der praktischen Charakterdeutung : mit zahlreichen Kunstdrucktafeln, Zeichnungen und Bildtabellen

der ihre Grammatik, das ist ihre innere Gesetzmäßigkeit erfaßt. Erst die moderne Physiognomik hat begonnen, die Bildungsgesetze dieser Sprache klarzulegen. Wenn wir ihr folgen, lernen wir zugleich eine Universalsprache verstehen, die alle Menschen sprechen, wo und.unter welchen Umständen immer sie wohnen mögen: die Sprache des Ausdrucks; und unsere Lehrmeisterin heißt Ausdrucksphysiognomik.

Die Anfangsgründe der Zeichensprache des Gesichts sind uns allen geläufig. Sie ist auch die erste Sprache, welche wir lernen. Dem Neugeborenen freilich, das selbst noch keine Spuren von Erlebnissen und Seelenvorgängen in seinem Gesicht tragen kann, muß auch ihre Sprache völlig fremd sein. Noch das drei Monate alte Kind lächelt, ob man freundlich oder böse zu ihm spricht; aber schon mit fünf Monaten antwortet es auf ein freundliches Gesicht mit Lächeln und erschrickt vor dem bösen. Die Mienensprache geht der Lautsprache voran. Sie ist noch keine begrifflich-symbolische, sondern eine sinnlich-anschauliche Sprache, sie ist Ausdruck.

Wir alle wissen, daß unser Gesprächspartner, auf den wir eingespielt sind, sich freut, wenn er lacht, traurig ist, wenn er weint. Aber wir wissen auch in einfachen Fällen oft nicht, woran es liegt, daß wir eine unscheinbare Veränderung in der Miene unseres Gegenübers richtig deuten, woran wir erkennen, daß sie plötzlich um eine Nuance interessierter oder bedenklicher geworden ist.. Vor komplizierteren Ausdruckszügen stehen wir nicht selten ratlos, besonders wenn sie nicht von Worten begleitet sind und auch nicht aus der Situation heraus verständlich gemacht werden, so z. B. wenn wir ein zurückhaltendes Gesicht zum ersten Male sehen. Da geht es an ein Rätselraten, da heißt es feinsten Spuren nachjagen. Ein spannendes, atemraubendes Beginnen! Gar manchem mag die neue Kunst wie ein Sport erscheinen, er wird vielleicht seinen Mitmenschen ins Gesicht schauen und nach Spuren ihrer Seele suchen, wie die Buben beim Indianer-

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