Gesicht und Charakter : Handbuch der praktischen Charakterdeutung : mit zahlreichen Kunstdrucktafeln, Zeichnungen und Bildtabellen

loses Maul, obwohl gerade bei den Pflanzenfressern die Lippen durch eine außerordentliche Beweglichkeit in der Funktion des Ausrupfens der Nahrung vorgebildet eind. Bei ihnen also sind die radiären Lippenmuskeln ausgebildeter, bei den Raubtieren hingegen besondere Fletschmuskeln. Bei Tieren, die sich von gemischter Kost nähren, darunter auch bei den Affen, sind somit, wenn auch nicht in hohem Maße, beide Arten von Muskeln entwickelt, und sie verwenden sie auch, bei der reicheren Auswahl ihres Speisezettels, zum Prüfen und wählerischen Vorkosten der Nahrung; Kostpröbler nennt sie Bühler. Und zum Zweck der Nahrungsaufnahme mag denn auch die ganze wundervolle Mundmuskulatur entstanden sein, die sich nachher in den Dienst der Mimik stellte, — wir sehen, auch das Grimassenschneiden der Affen dient nicht bloß müßigem Spiel. Vergegenwärtigen wir uns nun die weitere Entwicklung! Wenn der Mund von den Mundwinkeln her zusammengeschoben wurde, was geschah mit dem dazwischenliegenden Material? Es mußte eben ausgewulstet, ausgestülpt werden! Und so entstanden die menschlichen Lippen, die ihre schöne rote Schleimhaut nach außen kehren. Die Lippenschleimhaut ist ein empfindliches Tastinstrument, selber ein Sinnesorgan. Bei allen Säugetieren ist sie großer sinnlicher Wohlgefühle fähig, weil sie beim Saugen an der Mutterbrust, im Urakt des Kontakts überhaupt, eine Vorprämie auf den Genuß der ersten Nahrung gewähren. Beim Pflanzenfresser bildet sie überdies ein wichtiges Erkennungsinstrument für die Art der Nahrung. Wie die Mundwinkel die Gefühle und Triebe, so drücken also die Lippen Empfindungen, insbesondere Tast- und sinnlich-erotische Empfindungen aus, welch letztere, aus dem Saugen entstanden, dessen wesentliche Empfindungswerte in Form des Küssens ins spätere Leben hinüberretten. Im Ausdruck sinnlicher Gefühle also begegnen einander noch am ehesten die Horizontalspannungen

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