Gesicht und Charakter : Handbuch der praktischen Charakterdeutung : mit zahlreichen Kunstdrucktafeln, Zeichnungen und Bildtabellen

der Mundwinkel und die Vertikalspannungen der Lippenmuskeln; aber die Gefühle können sich einmal stärker mit Trieben, das sind Willensbestandteile in sehr urtümlicher Form auf niederer biologischer Stufe, vermischen, dann werden Affekte daraus — und dann treten die Mundwinkel in Aktion — oder die Gefühle können ein andermal mehr von Empfindungen geleitet sein, die, wenn sie auch sinnlicher Natur sind, dem rohen Begehren doch Gestalt geben und ihren Gegenstand ins Licht der Schönheit und des Geistes tauchen. Man könnte sagen: die Mundwinkelsinnlichkeit unterscheidet sich von der Lippensinnlichkeit wie die Sexualität von der Erotik.

Aber die Erklärung der Form des Menschenmundes durch den Prozeß seiner Entstehung aus dem Tiermaul gibt uns noch weitere Aufschlüsse. Die Mundspalte folgt schon beim Tier wesentlich dem Verlauf der beiden Zahnreihen parallel dem Unterkiefer mit seinem horizontalen Mittelteil und den beiderseits ansteigenden Seitenästen und bildet einen nach oben offenen Bogen. Wenn dieser nun beim Kleinerwerden des Mundes zusammengeschoben wird, so wird davon die Oberlippe mehr noch als die Unterlippe betroffen und stülpt sich nicht nur aus, sondern faltet sich auch ein; so entsteht die doppelte Auswölbung der Oberlippe nach oben beiderseits der Mitte, die sich dann durch zwei Bändchen verfestigt und zwischen sich die Nasenlippenrinne, das Philtrum, offenläßt, das von der Nasenscheidewand zur Oberlippe führt (Fig. 27).

Damit also hätten wir in den ersten Ansätzen nicht nur die merkwürdige und schöne Form des Menschenmundes genetisch (aus dem historischen Prozeß ihrer Entstehung aus dem breiten, lippenlosen Tiermaul) aufgeklärt, wir haben auch den Leitfaden gewonnen, der uns die langgesuchten elementarsten Mundstellungen angibt und kennen auch schon in großen Zügen ihre Bedeutung. Wir schreiten nunmehr

151