Gesicht und Charakter : Handbuch der praktischen Charakterdeutung : mit zahlreichen Kunstdrucktafeln, Zeichnungen und Bildtabellen

entstandenen Formbedeutungen. So steht Kürtens (XVI, 7) großer Mund trotz der geringen aktuellen Spannung (vgl. seine leblosen Augen) vielleicht mit seiner primitiven Angriffsbereitschaft, die keinen langen Weg durch menschlichseelischen Kampf mehr zu durchlaufen hatte, in Zusammenhang. Umgekehrt imponiert der kleine Mund des Detektivs (Fig. 31) als Zeichen von Kaltblütigkeit, die auch in schwierigsten Situationen sich weder durch Angst noch durch Draufgängerei hinreißen läßt. Auch Wagners (Fig. 18) kleiner Mund deutet auf eine überlegene Gewalt im Spiel mit den Leidenschaften, die beinahe an die Maske des Schauspielers grenzt. 4. Die Dynamik der Mundwinkel (Tabelle 14)

So wie am Blick können wir Bewegtheit oder Unbewegtheit auch am Mundwinkel, dem nebst den Augen beweglichsten Punkt des ganzen mimischen Geländes wahrnehmen. Und zwar wieder an ähnlich veränderten, wenn auch makroskopisch schwer beschreibbaren Formen, wie wir sie beim Sehen und Zeichnen von Bewegung besprochen haben. Es sind Formen, die nach einer Auflösung drängen wie eine Dissonanz, wie das Streben nach einer verlorenen Gleichgewichtslage, die, je nachdem ob der Mundwinkel lebhaft oder unruhig ist, eine stabile oder labile sein kann, ganz wie beim Auge. Ähnlich kann man die unbewegten Mundwinkel in ruhige und starre einteilen.

Meist trifft der Bewegungszustand der Mundwinkel mit einem ähnlichen des Blicks zusammen, wenn man auch eher mit dem Mundwinkel als mit der Wimper zuckt, und beide deuten natürlich auf einen entsprechenden Zustand der Seele, der sich ja in Ausdrucksbewegungen unmittelbar entlädt. Lebendig sind die Mundwinkel wie der Blick auf dem Arbeiterkopf (XII, 7), überhaupt dem Musterbeispiel eines fruchtbaren Moments sprühender Bewegtheit. — Die Mund-

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