Giorgiones Geheimnis : ein kunstgeschichtlicher Beitrag zur Mystik der Renaissance

auch von dieser auf jene gewisse lehrreihe Schlüsse ziehen kann! Daß gelehrter Humanismus in der Renaissance dem Künstler nicht selten seine mythologischen und allegorischen Aufgaben stellen wollte, ist freilich gewiß und auch damals mag das Verhältnis des Gelehrten zu solchen Aufgaben ein anderes gewesen sein als das des Künstlers. Aber wir dürfen auch nicht unser eigenes Spezialistentum an die Verhältnisse jener Zeit herantragen und müssen bedenken, daß der Übergang vom Weltbild des wissenschaftlichen Forschers zu dem des Dichters und wieder zu dem des Malers und Musikers ein fließenderer war im Zeitalter einer im Grunde noch „vorwissenschaftlichen”, romantisch-neuplatonisch gefärbten Allgemeinbildung. Von Bellini, dem Lehrer Giorgiones wissen wir zufällig, daß er sich gelegentlich gegen eine Bevormundung durch allzu gelehrte Mythographen gewehrt®) und sich das Recht auf Phantasie nach eigenem Geschmack vorbehalten hat. Auch sein Schüler Giorgione, dessen dichterisches, musikalisches und psychologisches Feingefühl ohne weiteres ersichtlich ist, dessen Verkehr im Kreise höfisch-gelehrter Weltbildung bezeugt wird, hat gewiß nicht selten von einem solchen Rechte Gebrauch gemacht. Aber man irrt darin, daß man solche „Phantasien” als schöne traumhafte Sinnlosigkeiten betrachtet; das wäre moderner, abstrakter Stimmungsimpressionismus. Sie bedeuten nichts anderes als eigene ernste Erfindungen und Gedanken. Wo Giorgione aber doc überlieferte mythische Stoffe wählte, da kann er gewiß nicht einen Virgil — die zweite Bibel des Mittelalters und der Renaissance -, da kann er auc nicht die Stoffe aus Ovid, aus Apuleius, Valerius Flaccus, Cicero und Statius, die ihm Wickhoff zuweist, unbesehen und ungelesen, nur von Hörensagen übernommen haben. Wohl möglich, daß er Dinge aus ihnen gemacht hat, die einer persönlichen Auslegung zuzugestehen sind, niemals aber solche, die schlechterdings kaum etwas mit jenen Quellen zu tun haben. Ludwig Justi, einer der neueren Biographen Giorgiones, hat über „Giorgiones Freiheit” ein ausgezeichnetes Kapitel geschrieben.'?) Er erkennt nicht nur die auffallende Unabhängigkeit des Malers vom kirchlichen Auftraggeber, sondern fühlt auch seine Selbständigkeit dem weltlichen Besteller gegenüber, der sonst gern mit allzu detaillierten Aufträgen die Er-

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