Giorgiones Geheimnis : ein kunstgeschichtlicher Beitrag zur Mystik der Renaissance

vom Oberpriester seinem Amtsnachfolger mitgeteiltwurde, so wie auch Pythagoras, die ägyptischen Priester, Plato und Aristoteles, ja Jesus selber (nach Origines’ Angabe) das Wesentlichste nur den „Eingeweihten” offenbart hätten. —

So weit unser Florentiner Philosoph und Alchemist, der - um es nochmals hervorzuheben, — maßgebendes Mitglied der Platonischen Akademie, „Bruder” des Marsilius Ficinus, Reuchlin, Alberti und vieler anderer Denker und Künstler war, und dessen Vorstellungen von uns darum ausführlicher wiedergegeben sind, weil sie als typisch für die Gesinnung aller dieser Männer angesprochen werden dürfen. Erscheinen uns diese Renaissancemenschen mit ihren gelehrten Gesellschaften am Beginn der Neuzeit und der modernen naturwissenschaftlich-technischen Geistesentwicklung, diese Zeitgenossen der Florentiner Quattrocento-Kunst nicht als seltsame Mystiker? — besser würde man noch sagen als Gnostiker oder Theosophen, wenn nicht dieser Ausdruck heute mit irreführenden Assoziationen belastet wäre.

AnläßlichderDeutungen, diedieAkademie desLionardo daVinei gelegentlich in einem fast mystisch ordensmäßigen Sinne erfahren hat, hat sich neuerdings Olschki?°) energisch gegen alle Versuche gewendet, die hier etwas anderes als eine freie wissenschaftlihe und gesellige Vereinigung sehen wollten. Was aber derselbe Forscher über die verworrene, neuplatonischgnostische Denkungsart selbst bei Lionardo kritisch feststellt, macht nicht recht verständlich, wieso solche Menschen beiihren regelmäßigen Zusammenkünften das Bild der antiken platonischen Akademie nicht auch nach der religiös kultischen Seite hin nachgeahmt haben sollten. Daß viele Mitglieder der Akademien der astrologischen und auch der alchemistischen Naturmystik und Psychologie huldigten, haben wir bereits hervorgehoben; beide Disziplinen aber erziehen ihre Anhänger geradezu zu einer Berücksichtigung bestimmter Zahlenverhältnisse, zu einer Ordnung in bestimmten „Graden” und Prozessen des inneren und äußeren Aufstiess. Man bedenke aud, daß alles Kultisch-Geheime sofort die Aufmerksamkeit von Kirche und Behörden auf sich gelenkt haben würde, die gegen halböffentliche fahwissenschaftliche Disputationen nichts einzuwenden hatten. Ahnen können wir

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