Griechische Bildwerke : mit 140, darunter etwa 50 ganzseitigen, Abbildungen

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loses behält, durch Farbe belebt, ja beinahe durch die Bemalung allein wiedergegeben werden konnte, werden daher noch bekleidet gebildet, als die Bronzefigur schon auf das Gewand verzichtet hatte, denn hier, wo keine Bemalung belebend eintreten konnte, waren die glatten ungebrochenen Flächen der primitiven Gewandung plastisch tot. Es war schon in diesen frühesten Zeiten griechischer Kunst das Streben nach künstlerischem Reichtum, ein absoluter künstlerischer Idealismus, dersich selbst auf Kosten unmittelbarer Lebenswirklichkeit durchgesetzt hat. Zum erstenmal tritt die stilbildende Kraft der Bronze hervor, von der die griechische Kunst auch weiterhin die stärksten Impulse erfahren hat. Später wurde dann freilich die gymnische Nacktheit der Palästra die festeste Stütze dieser künstlerischen Gesinnung; aber auch dann haben die griechischen Künstler, deren Augen nun am lebenden Menschen die sinnliche Erfahrung des Formenreichtums und der Ausdruckskraft des nackten Körpers gewinnen konnten, sich nicht auf die gegebene Wirklichkeit des Lebens beschränkt. Schon in früher Zeit schritten sie dazu fort, dem Machtbereich der Nacktheit auch mythische und halbgeschichtliche Darstellungen und in großartiger Freiheit selbst weite Gebiete über die tägliche Erfahrung des Lebens hinaus zu unterwerfen. Auch der weibliche Körper, dessen unverhüllter Bildung im Großen die Kunst lange Zeit auswich, ward nun, anfangs noch unter sorgsamer Motivierung der Nacktheit, Gegenstand plastischer Darstellung; und im Unterschied von der natürlichen Nacktheit des Jünglings, die ein Gewand nie gekannt zu haben scheint, wagt die Kunst mit der knidischen Aphrodite des Praxiteles nun auch den letzten noch möglichen Schritt in der Wiedergabe des entkleideten Körpers, ohne die feine Linie vollendeter Sittsamkeit zu verletzen.

6.

Es mußte für das Schicksal der griechischen Kunst von außerordentlicher Bedeutung werden, daß durch die Freiheit der Tracht und die Gewohnheit täglicher

Leibesübung eine Menschheit erzogen wurde, die alle Bewegungsmöglichkeiten des Körpers aus eigener Erfahrung kannte und dadurch befähigt war, jedes plastische Motiv am eigenen Leibe mitzuempfinden. Der Grieche war sich seines Körpers bis in das letzte Gelenk bewußt und nahm den plastischen Inhalt des Marmor- oder Bronzewerkes mühelos in das eigene Körpergefühl auf. Hier wurde das Kunstwerk wirklich nach seinem künstlerischen Wert empfunden und an den Künstler keine Forderung gestellt, die nur mit Verletzung der künstlerischen Pflicht zu erreichen ist.

In der Tat arbeitet die Plastik nicht allein für das Auge, sondern ganz wesentlich „für den Sinn der mechanischen Bewegung des Körpers‘‘ — mehr noch als die Baukunst, der die goethischen Worte gelten —, und darum wird die Fähigkeit, ein plastisches Werk als Kunstwerk zu verstehen, immer auf der Fähigkeit beruhen, die Plastik des eigenen Körpers zu empfinden. Nur dann ist ein Organ vorhanden, das die plastischen Formen des Bildwerks lebendig mitzufühlen imstande ist.

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Sicher war es ein großes Glück, daß diesem im höchsten Maße plastisch begabten Volk in den verschiedenen Arten edeln Marmors, der überall auf dem festen Lande und auf den Inseln reichlich gebrochen wird, ein Stoff von außerordentlicher Bildsamkeit zu Gebote stand, kristallinisch, ohne vor dem Meißel zu zersplittern, zart, ohne einen Schein von Weichlichkeit, die Mitte haltend zwischen dem leichteren, porösen Kalkstein und dem harten massiven Urgestein des Granit, Porphyr und Basalt, die wie der unklare Alabaster wenigstens während der griechischen Zeit der antiken Kunst von der Verwendung zu Bildwerken ausgeschlossen waren.

Genau werden die verschiedenen Marmorarten auseinandergehalten und nach ihrer besonderen Güte bewertet: der parische von großem glänzendem Korn, blendend weiß, der elfenbeinfarbene von Lesbos, der pentelische bläulich gefleckt, aber von der meerfeuchten griechischen Luft