Griechische Bildwerke : mit 140, darunter etwa 50 ganzseitigen, Abbildungen

XIV

Die mannigfaltige und lebhafte Aktion der ägynetischen und olympischen Giebelgruppen, die energische Ausfallstellung der Tyrannenmörder (15), die Fixierung des Augenblicks „wo eine Bewegung schwunghaft in die andere übergehen soll“ in dem Diskuswerfer Myrons (28) sind Momente des Ringens um die künstlerische Bewäiltigung des menschlichen Leibes. Anfangs verstehen die Künstler nur Arme und Beine ihrer Figuren frei zu bewegen, allmählich lernen sie auch die Formen des Rumpfes beherrschen, bis endlich in dem Doryphoros Polyklets (58) die vollkommene Form gefunden ist.

Hier ruht die Last des Körpers entschieden auf dem Standbein, der entlastete Fuß ist leicht zurückgestellt; nun schiebt sich die rechte Hüfte kräftig gegen die linke hoch, die rechte Schulter aber liegt tiefer als die linke, an die Stelle gleichmäßiger Anspannung und Zeichnung ist das freie rhythmisch bewegte Muskelspiel, ein fließender Umriß getreten.

Der Doryphoros Polyklets hält im Schreiten inne, er steht. Der Apoxyomenos Lysipps (95) aber hat wirklich den Anschein momentaner Bewegtheit, eben ist ET, scheint es, im Begriff, die Last des Körpers von dem linken auf den rechten Fuß zu übertragen.

Das ist das Neue. Auch der Myronische Diskuswerfer ist nicht in dem Sinne bewegt wie diese Figur. Dort ist immer noch ein Augenblick der Ruhe festgehalten, freilich ein Augenblick, eingeschlossen zwischen zwei mächtige Bewegungswellen, aber eben doch ein Augenblick der Ruhe, wie der ausschlaggebende Pendel eine Sekunde lang stille steht, ehe er zurückschwingt. Es ist eine ganz andere Art innerer Bewegtheit, die Lysipp wiederzugeben vermocht hat, indem er seinen Jüngling eine leichte Rechtsdrehung des Oberkörpers ausführen läßt.

Die Möglichkeiten der Eigenbewegung der freistehenden menschlichen Figur sind damit im Prinzip erschöpft.

Lysippos ist der Zeitgenosse Alexanders des Großen, dem er auch persönlich nahe-

stand; er allein durfte das Porträt des Königs bilden.

Neben der energischen Frische seines Apoxyomenos steht die verträumte Sanftheit der praxitelischen Gestalten, die letzte zarteste Blüte der attischen Marmorkunst.,

Mit deutlicher Vorliebe läßt Praxiteles seine Figuren sich an eine feste Stütze lehnen, so daß man ihm am liebsten die Erfindung dieses neuen statischen Motivs zuweisen möchte. Bei dem Hermes aus Olympia (79), bei dem eidechsentötenden Apolloknaben (84), bei dem Satyrburschen (83) ist der Baumstamm nicht nachträgliche Kopistenzutat, er gehört als wesentliches Stück der ursprünglichen Konzeption.

Dadurch, daß ein Teil der Last auf die feste Stütze übertragen ist, wird dem Körper selbst ein Teil seiner Schwere abgenommen, die Muskeln sind physischer Kraftanspannung überhoben und werden dafür in einem Maße beseelt, wie es die frühere Kunst nicht gekannt hat. Wie spielt das feinste geistige Leben auch nur auf dem Rücken und in der zarten Gliederung der linken Hand der olympischen Figur, von dem Leibe und dem glänzenden Haupt zu schweigen.

Es ist der höchste Triumph der griechischen Kunst und ein Zeugnis bis ans Ende reinerhaltener Gesundheit, daß sie noch im Augenblick, wo Griechenlands politische Rolle ausgespielt war, so adelige, ohne einen Geschmack der Süßigkeit sanfte und zarte Bildungen, so scheue und kecke Jugend, so unantastbare Frauenschönheit hervorbringen konnte,

Was nach Praxiteles kam, ist nicht mehr ungemischt griechische Kunst. Mit der Epoche Alexanders begannen die Länder um das östliche Mittelmeerbecken, lange schon von griechischer Kultur angerührt, sich zu einem neuen Kulturkreis zusammenzuschließen. Den pathetisch vordringenden Geist dieser kriegerfüllten Zeit empfinden wir am deutlichsten an Werken wie der Nike von Samothrake (105) und dem Fries des Götter- und Gigantenkampfes vom Altar des Zeus in Pergamon (106, 107), dem letzten Denkmal eines machtvollen künstlerischen und ethischen Enthusiasmus.