Illustrierte Geſchichte des Weltkrieges 1914/15.
454 aufgeſtellt haben, nihts geändert. Das Weſen und die Wertſhäßung von Angriff und Verteidigung, von Verfolgung und Rüzug, von Flankierung, Einkreiſung, Durchbru< und anderem mehr ſind dieſelben geblieben. Sie werden unverrüdt bleiben wie die Saßungen einer Religion, die die Jahrhunderte überdauert. Aber in der Kampfform aller Waſſen, das heißt in der Verwendung ihrer Kräfte im Kampfe ſelbſt, ſind ſo grundlegende Veränderungen eingeireten, daß ſie als ein entſ<heidender Wendepunt im geſamten Kriegsweſen zu betrahten ſind. deutſche Infanterie war in den Friedensjahren vor dem Kriege im Geiſte rüdſihtsloſer Offenſive erzogen. Das
Reglement von 1906/08 ſagt in dem Abſhnitt über das
Gefecht: „Den ihr innewohnenden Trieb zum angrifſsweiſen Vorgehen muß die Jnfanterie pflegen; ihre Handlungen müſſen von dem einen Gedanken beherrſ<t ſein: „Vorwärts auf den Feind, koſte es, was es wolle.“ Eine niht wegzuleugnende Geringſhäßung gegen die Anlage von Schüßengräben, geſ<hweige denn gegen das Eingraben, ging mit dieſer ritterlihen Angriffs= theorie Hand in Hand. Wer bei Friedensübungen die Löſung ſeiner Aufgabe in der Verteidigung ſuchte, konnte nux in ſeltenen Fällen auf Billigung re<hnen. Es iſt be-
zeihnend, daß als fleine Diſziplinarſtrafe für die Mann-
[haften das Tragen eines Spatens verſügt wurde. Man übte als Form für den Angriff das allmähliche Herantragen einer ungeheuren Feuerwoge ein, die genährt wurde dur<
mehrere offene Linien hintereinander, die alle ſprungweiſe
vorgehend die vordere Feuerlinie na<h und nah auffüllen, ſomit die vordere Shüßenlinie ſoweit verdichten ſollten, daß die erlittenen Verluſte ausgeglihen wurden. Mit den ſo verſtärkten vorderen Shüßenſhwärmen wurde dann mit Hurra und Trommelwirbel der Anlauf gemacht, der den Feind mit dem Bajonett niederrennen ſollte. Floh
er, ſo drohte ihm Vernichtung durh das auf nähſte Ent-
fernung abgegebene Verfolgungsfeuer. :
+ Die Unterſtühung des Jnfanterieangriffs dur< ArtilTeriefeuer wurde allerdings empfohlen und auh geübt, jedo< darüber hinweggeſehen, wenn die Jnfanterie einmal ihr Heil allein verſuchte oder ſih wenigſtens mit ihren
Maſchinengewehren begnügte, von deren ungeheurer taf--
tiſher Bedeutung ſih vor dem Kriege nur wenige eine rihtige Vorſtellung machten. Die „Zweiwaſfentattik“ — ſo nannte man die innige Verbindung von“ Infanterie mit Artillerie — blieb eine zwar anerkannte, aber niht immer befriedigte Forderung. Moltke ſagte einmal: „Eine neue Taktik ließe ſi<h auf dem Schlachtfeld niht improviſieren; die Truppe mache dort das, wds ſie auf den Übungspläßen gelernt habe.“
die zwar heldenhaften, aber verluſtxeihen Angriffe unſerer Infanterie in den mörderiſhen Auguſtſ<hla<hten von 1914.
Die Erfahrung iſt allerdings niht vergeblih gemacht worden. Die Artillerie wird ſ<werli< jeßt bei Einleitung irgend eines Gefechts fehlen. Jnwieweit dabei die Feld=artillerie dur<h die ſ<were Artillerie verſtärkt worden iſt, davon weiter unten. Die feindlihe Feuerwirkung zwang aber die Infanterie zu ungleih umfangreicherer und feinerer Benüßung der De>ungen im Gelände. Von einem Vorgehen über freies, von feindliher Artillerie und Maſchinenzgewehren eingeſehenes Gelände konnte keine Rede mehr ſein. Ein Heranſ<hleihen, Auf-dem-Bauche-Herankrxiechen (,„ Robben“ nennt es die Truppe), ein Sihwinden durch die Éleinſten Geländefalten, dur<h Wegegräben, das Benüßen jedes Baumes, jedes Gebäudes als vorübergehende De>ung Das iſt jet das Kennzeichen jedes Kampffeldes. Man ſucht ſih niht allein den feindlihen Geſchoſſen, ſondern auh
den feindlihen Augen zu entziehen. Dahex die \{heinbare Öde — die unheimliche Leere des Schlachtfeldes.
Dieſe hat im „Stellungskrieg“ womögli<h no< eine Steigerung erfahren. Das Zeigen einer Helmſpiße bringt ſhon ernſteſte Gefährdung, das Sichtbarmachen des Körpers ſiheren Tod. Der Stellungskrieg hat die Verlängerung Des Krieges bedingt. Hätten wir unſere Gegner auf einem Kampfplaß, wie ſie etwa die fla<he Ebene bei Leipzig in der Völkerſhlacht 1813 geboten hat — die Entſcheidung wäre längſt gefallen. Der Stellungskrieg iſt in vollem Maße
vergleihbar dem legten Stadium des Feſtungskrieges vor-
dem Sturm über den verflahten Feſtungsgraben. Mit Sappen hat man ſih herangearbeitet, mit Minen hat man
Illuſtrierte Geſchichte des Weltkrieges 1914/15.
Die |
Aus dem angedeuteten Unterlaſſen der Betonung der Artilleriewirlumg im Frieden erklären ſich.
| dem Feinde zugeſeßt, der Sturm — der Anlauf — iſt jeden
Augenbli> zu erwarten. Der Minenkrieg — jahrzehntelang zum alten Eiſen geworfen — iſt im Ruſſiſ<h-Japaniſhen Kriege wieder aufgelebt. Jeßt ſteht er in vollee-Blüte. Die Minierkompanien, die lange Zeit abgeſchafft waren, bilden jeßt einen foſtbaren Teil unſerer Angriſfstruppen. Man fragt ſi<: „Warum bringt der Stellungskrieg eine ſolhe Verzögerung dex Kriegsentſheidung zuwege?“ Die Antwort iſt: Weil eine Verteidigungslinie, die auf beiden Flanken geſichert iſt — dur< Meere, Grenzen neutraler Staaten, gewaltige Feſtungen, befreundete Armeen — nur in der Front angegriffen werden fann. Die Frontalangriffe gegen- ſtart befeſtigte Feldſtellungen, unterſtüßt
_dur< eine gewaltige [<were Artillerie und dur< die Gliede-
rung na der Tiefe in mehrere, in ihrer Stärke wachſende
Verteidigungslinien, haben kaum die Ausſiht auf Erfolg.
Das zeigen überzeugend die Erfahrungen in Flandern (auf beiden Seiten), im Artois, in der Champagne, in den Kar= pathen, auf Gallipoli und am Jſonzo. Nur dann iſt eine in der Front ſtarke Linie zu überwältigen, wenn ſie von der Flanke geſaßt werden fann. e Troß dieſer Erkenntnis ſpielen ſi< auf allen Fronten exbitterte Teilfämpfe ab. Die eigentümlihe Änderung der Kampfform betätigt ſih unter anderem in dem Erſaß des Bajonetts dur< die Handgranate. Dieſe iſt eine mit einem ſtarken Sprengſtoff gefüllte eiſerne Kugel, in RußTand ein Kubus, der auſ nächſte Entfernung in den Feind hineingeſhleudert wird und beim Aufprall na<h wenigen
Sekunden detoniert. Sie hat eine Wirkung wie etwa die
Granate des ehemaligen Vierpfünders, der die Schlachten Kaiſer Wilhelms 1. ſ<lagen half. Der Angriff geſchieht
‘alſo damit, daß die Stürmenden ein Dußend Handgranaten
in den Arm odex in den Brotbeutel nehmen und dieſe nun in die feindlihen Linien, Shüßengräben odex Untertunft- |
“ſtände ſ<hleudern. Die. balliſtiſhe Wirkung iſt ungeheuer, _zermalmend.
Rechnet man dazu die Vernihtung durdMinen von unten, die Wirkung der Bomben und Flieger= pfeile ſeitens der Luftfahrzeuge von oben, ſo tommt der frühere Bajonettangriſf mit ſeinem „ſelten folgenden“ Nahkampf dem Beurteiler vor wie eine milde Äußerung des Kriegsgottes. Die Begleiterſheinungen des jeßigen Krieges ſind dur<h die Vervollkommnung der Zerſtörungste<nik eben überall vernihtender, grauſamer und abſtoßender geworden — der erſti>enden_ Gaäsangriſſe, die. unſere Gegner uns aufgenötigt haben, gar niht gu gedenken. Wenn alſo im Bewegungskriege, zum Beiſpiel bei. dem großartigen Dur<hbru<h am Dunajec (Mai 1915), die alten ſtürmiſhen Ängriffsföormen zu ihrem wohlverdienten, entſcheidenden Erfolge gelangten, ſo bietet anderſeits DEV häufiger eintretende Stellungskrieg die Erſcheinungen dex Berennung einer Feſtung. Hierbei iſt der Sturmangriff das Ende und die Entſcheidung einer langen Kriegsperiode — eine Überrennung und deren . Abwehr. Vorher aber ſpielen ſih die zermürbenden Perioden des Feſtungsfkrieges ab etwa wie der Tranhheenangriſſ auf Sewaſtopol. Dex dauerte neun, unſer jeßiger Krieg an der Weſtfront bereits fünfzehn Monate. : :
Eigentümlih iſt die eingetretene Verkürzung der Ett=
fernungen, innerhalb deren das Jnfanteriefeuer abgegeben
wird. Vor dem- Kriege hielt man das Schußfeld fÜr beſonders günſtig, das einen weiten Ausbli> — auf 1209 Meter und darüber — geſtattete. Fiel das Gelände dabei allmählih ab, um ſo beſſer. Man glaubte, den Feind auf dieſem langen Angriſfsweg ſo ſhädigen zu können, daß er zum lekten Anlauf niht mehx die nötige Kraft habe. Anders jeht! Man ſpart das eigene Feuer bis zum leßten Augenbli>. Man eröffnet es erſt dann, wenn der Feind auf 200 bis 800 Meter herangekommen iſt. Dann ſchlägt ihm die Feuerwoge mit vernihtender Wirkung ims Geſicht. Steigt das Gelände dem Angriff des Feindes ein wenig entgegen, ſo erhöht das die balliſtiſhe Wirkung. Maſchinengewehre und Feldgeſhüße ſind vielfah in die vorderſte Linie eingeſtreut. Wird dieſe einmal überrannt, ſo ſind ſie allerdings gefährdet. Das muß aber als unausbleibli< hingenommen werden. Die Feldartillerie ſuhte bis zum Kriegsbeginn eime Maſſen= wirkung in langen Geſchüßlinien, wie wir ſie in den Shlah=ten von 1870/71 mit vollem Erfolg angewendet hatten. Das indirekte Feuer wurde bevorzugt, |o ôWar, Daß die Geſchütze hinter einer Hügelfette auf der dem Feinde abgetehrten Seite möglihſt ſo in Stellung gingen, daß die