Illustrierte Geschichte des Orientalischen Krieges von 1876-1878. : mit 318 Illustrationen, Plänen, Porträts und zwei Karten, str. 265
auſ, daß troß der rieſenmäßigen Erſparniſſe der am 1. (13) Fanuar 1872 fällige Zinſencoupon ohne Anleihe niht gede>t werden konnte, denn da in Folge der liederlihen Finanzwirthſchaft die Beamtengehalte gegen a<ht Monate im Rückſtande waren, ſo foniten dieſe „Erſparniſſe“ felbſt im glü>lihſten Falle erſt im Frühjahre oder Sommer 1872 zum Vorſchein kommen. Es wurde eine Reihe der durchgreifendſten Reformen verſprochen: die Güter in todter Hand ſollten ſäculariſirt (verweltliht, eingezogen) werden; ein regelmäßiges Budget (Staatscaſſe-Berehuung) ſollte aufgeſtellt werden ; eine Anzahl Journaldschis (Ueberwachungsbeamte, Controle) ſollten alle Provinzen des Reiches bereiſen, um die Mißbräuche feſtzuſtellen, die Bedürfniſſe des Landes zu ermitteln und darüber Berichte zu machen ; es wurden ſogar dieſe „Fournaldſchis“ ernanut, aber fein einziger von ihnen verließ die Hauptſtadt, die Güter „in todter Hand“ (d. i. das Kirchenvermögen) blieben im Beſiße der Moſcheen u. dgl. und das im März 1872 veröffentlichte Budget erwies ſi< hinterher als vollendetes Phantaſieſtük.
In allen Pforten-Bureaux herrſchte eine wahrhaft fieberiſ<he Thätigkeit und jeden Tag wurde das Publikum dur< irgend eine Auſſehen mahende Nachricht in Aufregung verſeßt. So unterſagte der Großvezier im türkiſchen Faſtenmonat Ramazan den Chriſten das Tabakrauchen auf der Straße und in ihren Buden! Da man ſih aber durch eine ſ{le<t abgefaßte Verordnung lächerlih gemacht hatte, ſo mußte dieſelbe zurügenommen werden. Am 1. Ramazan wurde die Tramway-Linie von Conſtantinopel eröffnet, zu welcher Ceremonie der Großvezier einen ſeiner Adjutanten abordnete; am Nachmittage jedoch ließ der Stadtpräfect Ali Bey die Linie wieder ſperren. Unter Proteſt der Gewalt weichend, machte die Geſellſchaft ihre Klage anhängig und da auh auswärtige Capitaliſten bei der Unternehmung betheiligt waren, ſo koſtete dieſer Willfür-Act des Stadtpräfecten der Staatscaſſe wieder eine hübſhe Summe von Entſchädigungsgeldern. Um dieſelbe Zeit herrſchte eine CholeraEpidemie in der Stadt und in den Vorſtädten ; um nun bei dem allgemeinen Hexenſabbath auch eine Rolle mitzuſpielen, verordnete der Geſundheitsrath die Cernirung (Einſchließung) der verpeſteten Häuſer, das heißt — die männlichen Einwohner, Kinder wie Erwachſene, durften nach Belieben aus- und eingehen, aber den weiblichen Bewohnern war es ſtrenge unterſagt, das Haus zu verlaſſen. Kurz, es war ein Narrenthurm in Folio! Sämmtliche Beamtengehalte wurden um vierzig bis ſe<zig Percent ſelbſt herabgemindert, aber wie alles Andere war es auh hier eitel Humbug; denn es mußten zwar die kleinen Ünterbeamten mit zwei- bis vierhundert Piaſtern
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monatli<h (zu viel zum Verhungern, zu wenig
zum Sattwerden) ſi<h dieſe Verringerung gefallen
laſſen, aber für die „oberen Zehntauſend“ wurde dadurch geſorgt, daß ‘wenige Tage vorher ihre Gehalte in entſprechender Weiſe erhöht wurden.
Mahmud Paſcha ernanute ſeinen Bruder Achmed Bey, ehemaligen Director der Mauth, der jedo<h' wegen völliger Taubheit {hon ſeit mehreren Fahren von allen Staatsgeſchäften zurü>getreten war, zum Director des Poſt- und Telegraphenweſens. A<med Bey war ein redlicher und gewiſſenhafter Maun, aber vom Poſt- und Telegraphenweſen verſtand ex niht das Mindeſte. Um nun auch in dieſem Zweige „Erſparungen“ zu machen, wurde eine Menge der unentbehrlichſten Beamten auf die Straße geſeßt und der Gehalt der übrigen Beamten um vierzig Percent vermindert, was zur natürlihen Folge hatte, daß niht nur der Dienſt litt, ſondern auh die Einnahmen in verſtärktem Grade ſi< verminderten.
Eine alte Verordnung verſügte, daß auf der großen Fahrſtraße, welche längs des Bosporus nah dem Schwarzen Meere führt, die Reiter vom Pferde abſteigen mußten, fobald fie die Strecke erreichten, welche zwiſchen dem kaiſerlichen Palaſt am Waſſer und dem oberen Ufer hindur<hführte; ebenſo waren die Paſſagiere in den Kaiks (Schaluppen) auf dem Bosporus gezwungen, ihre Regenoder Sonnenſchirine niederzuſpannen, wenn ſie vor dem faiſerlihen Palaſte vorüberfuhren ; Sultan Abdul Medſchid hatte den guten Geſchmack gehabt, die betreffende Verordnung ſeinerzeit aufzuheben — am leßten Tage des Fahres 1871 aber wurde dieſe veraltete und ſeit mehr als fünfzehw «Fahren außer Kraft geſetzte Verordnung wieder in's Leben gerufen, ohne daß man es auh nur der Mühe werth erachtete, das Publikum davon in Kenntniß zu ſetzen.
Der Umſtand, daß Mahmud Paſcha ein beſhränkter Kopf war und daß ihm ſelbſt die Mittel abgingen, dur< Lectüre fi< nachträglih über die vielfahen verwi>elten Fragen, deren Lſung von ihm abhing, zu belehren, nöthigte ihn, ſich nah Aushilfe umzuſehen, die er denn auh bald fand. Die zur Zeit Ali Paſchas theils dur< freiwillige, theils unfreiwillige Verbannung verſprengten Mitglieder der „Jeune Turquie“ (des JFung-Türkenthums) wurden zurüberufen und aus dieſen wählte er ſi< Zia Bey aus, der ihn über einſ<hlägige Punkte belehrte; zu weiterer Aushilfe nahm ex no< Riza Bey, ehemals Geſandten in Teheran und Petersburg, und mit deren Hilfe konnte cr die ſo verwi>elte bulgariſche und die niht minder verwi>elte katholiſh-armeniſche Frage in Behandlung nehmen.
Um noch weitere „Erſparuiſſe“ zu erzielen, machte ſi< der Großvezier an die KalenderReform: das Nechuungsjahr von 365, beziehungsweiſe 366 Tagen wurde in neun Monate ge-