Illustrierte Geschichte des Orientalischen Krieges von 1876-1878. : mit 318 Illustrationen, Plänen, Porträts und zwei Karten, str. 296

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weſen und die Proceßformen allmälig nah europäiſchem Muſter eingerichtet wurden.

Ju früheren Zeiten, als no<h kraft des Geſeßes „Urf“ (Cabinetsbefehl des Sultans) den Sultanen die willkürlihe Verhängung der Tode sſtrafe zuſtand, blieben die Ulemas von derſelben ebenſo verſchont wie mit Güterconfiscationen, und wurden einfa< verbannt. Sollte aber Einer denno< für Staatsverbrechen hingerichtet werden, ſo ward er zuvor in ein Civilamt verſeßt und dann erſt auf eine möglichſt geräuſchloſe Art aus dem Leben geſchafft. Ein einziges Mal kam es vor, unter Murad IV. (geſt. 1640), daß ein Groß-Muſfti als ſolcher hingerichtet, und zwar in einem Marmormörſer zerſtampſt wurde ; aber Murad war auch der Erſte, welcher ſo unumſhränkt zu regieren ſi< unterſtand und ſi ſelbſt für „Gottes Statthalter" erklärte; nebſtbei verlate er die Santons (türfiſhen Heiligen, Einſiedler) und alle Ordensleute, faſtete den Ramazan über nit, betete nie und wax überhaupt ſehr rahgierig und grauſam. i

Der Scheik-al-Jslam gürtet bei der Thronbeſteigung dem Sultan das Schwert Os man's (des Stifters der Dynaſtie, geſt. 1328) um, eine Ceremonie, welche die Krönung vertritt, und ſpricht auh an ſeinem Sarge die Todtengebete. Die Ulemas waren die Pfleger der Bildung und des Wiſſens des Osmanenthums; aus ihren Reihen gingen die meiſten Dichter, auh Aerzte und Aſtrologen hervor. Jn der erſten Zeit fand ſi unter ihnen mancher Richter der Sitten, welcher au<h den Zorn der Sultane nicht ſcheute, wenn ihr Betragen zu Aergerniß Anlaß gab. So z. B. Emir Seid, als ihn der dem Trunk fröhnende Sultan Bajeſid LT. (beigenannt Jildinin, Donnerfeil, geſt. 1402) ſeine zu Bruſſa erbaute Moſchee bewundern laſſen wollte, wobei er dem Sultan ſagte: „Deine Moſchee iſt groß, \<ön, prächtig, erhabener Sultan, aber es fehlt

ihr etwas zur Vollkommenheit in Deinem Sinne“. — „Und das wäre?“ frug Bajeſid neugierig. — „Es fehlen“, war die Antwort

Emir Seid’s, „an den vier E>en die mejchanes (Schänfèn), die doh dem Bau zur Zierde gereichen und Dich oft veranlaſſen würden, das (Gotteshaus mit Deinen Freunden zu beſuchen“. Dieſer Vorwurf blieb niht ohne erſprießliche Wirkung, was die Einſicht und Charafkterſtärke des Sultans nicht minder ehrt als den fühnen e des Mufti. Ein anderer, Mollah orani, {lug ſeinen Schüler Mehemed IL, den berühmten Eroberer, weil er ſi< eigenſinnig weigerte, den Koran zu leſen, und Mehemed bedankte ſi< dafür bei ihm. ; Noch eine Würde iſ zu erwähnen — die des Nakyb nel-Eschraf (Haupt der Scherifs, das iſt der Statthalter in exoberten Provinzen, Art Gauvögte). Die Scherifs oder Emirs gelten

als die Abkömmlinge des Profeten Mohammed durch ſeine Tochter Fatime und ſind durch den grünen Turban ausgezeihnet. Man findet ſie in allen Ständen, bei den niedrigſten Berrihtungen, au< als Bettler; doh das thut nah muſelmaniſher Anſchauung dem Adel ihres Blutes keinen Eintrag. Von den Vorrechten, die ſie ehedem beſaßen, iſt ihnen keines mehr geblieben, als daß ſie einzig und allein dur< ihren Nakyb beſtraft werden dürfen. Wer ehedem einen Emir ſ<lug, wurde zum Verluſt der Hand verurtheilt. Man behauptet in der Türkei, daß bei dem Geſchlehte der Emire eine eigenthümliche Erſcheinung zu Tage trete; es zeige ſich nämli<h im Allgemeinen bei ihnen nah dem vierzigſten Lebensjahre eine raſ<he Abnahme der Fähigkeiten, die oft in Blödſinn ausarte, weshalb auch das wenig Achtung bekundende Sprichwort : „Dumm wie vom Stamm dex Emire“.

Die Würde als Nakyb (Adelsmarſchall) fann von den oberſten Richtern oder Ulemas bekleidet werden, geht aber verloren, ſobald ihr Träger zum Scheik-al-Fslam ernannt würde. Der Nakyb iſ Hüter der Reliquien des Profeten und der heiligen Fahne, dieſer muſelmaniſchen * Oriflamme, welhe er nöthigenfalls aus dem Palaſte des Sultans in das Lager trägt; er bereitet im Rhamadan (Faſtenmonat) vor dem Sultan und unter Beihilfe des Muſti das ab-Chirkassy-Sherif, das heilige Waſſer, welches dur<h Befeuchtung eines Zipfels vom Mantel des Profeten gewonnen wird,

Die übrigen rihterli<en Aemter werden in den Städten, welhe Rang na<h Stambul haben, von den Mollahs (Oberrichtern) eingenommen, unter deren Leitung die Kadis in den niederen Städten und ſelb in Dörfern Recht ſprachen. Die richterlichen und doctoralen Aemter waren im Beginn mit der Unabſeßbarkeit verbunden ; ſpäter aber wurden die Beamten verſeßbar und die Mollahs von Stambul blieben ein Fahr, die Provinz-Kadis zwei Jahre in demſelben Amt, ohne es zweimal nacheinander befleiden zu fönnen. Alle dieſe Richter ſprachen in erſter und letter Jnſtanz in Civil- und Criminalfragen ; ſie waren außerdem zuglei<h Offiziere des Civilſtandes und Notare. Heute jedo< ſind die Kadis in ihrer Amtswirkſamkeit dur<h die in neuerer Zeit eingeführten Geſeße und Tribunale mehr und mehr beſhränkt worden ; es iſt der Kadi von den bureaukratiſhen Richtern mit ihrem Troß von Schreibern und Advocaten ſo ſehr in die Ee gedrückt worden, daß er wohl bald zur mythiſchen Figur werden dürfte.

Das Gerichlsverfahren vor dem Tribunal des Kadi iſt mündlich. Die Einfachheit des Verfahrens bildet einen ebenſo ſtarken Gegenſaß zur verwi>elten Umſtändlichkeit des Verfahrens in manchem abendländiſhen Culturſtaat, wie ihre Raſchheit