Illustrierte Geschichte des Orientalischen Krieges von 1876-1878. : mit 318 Illustrationen, Plänen, Porträts und zwei Karten, str. 297

zur bureaukratiſchen Verſchleppung. Was man den Kadis auh immer na<ſagen mag, und wäre ſelbſt weniger Uebertreibung dabei, im Ganzen und Großen iſt das Weſen des Rechtes bei ihren Sprüchen ſ{werli< \{<limmer weggekommen, als bei ſo vielen europäiſhen Vorbehalten und Advocatenkniffen, denen das Formelle die Hauptſache iſt und über deſſen Wahrung oft das Weſen verloren geht. Namentli<h in früheren Zeiten, als der religiöſe Sinn in ſeiner ungetrübten Reinheit die mujelmänniſche Geſellſchaft beherrſchte, dürften die Vortheile der Kadi-Sprüche die Nachtheile derſelben aufgehoben haben. Mochte auh mancher Kadi der Beſtechlichkeit zugängli<h geweſen ſein, ſo war es doh au< dem Unbemittelten möglich, ſein Recht zu finden, und oft hat er es gefunden. Der Buchſtabe des Geſees und die öffentliche Meinung der Gemeinde hielten auch den ſ{limmſten Kadi theilweiſe in Schranken. Niemand wenigſtens lief Gefahr, einen Proceß zu gewinnen und als

Endergebniß eine Advocaten- und Gerichtsre<hnung-

bezahlen zu müſſen, welche den ſtreitigen Gegenſtand beiweitem an Werth überſtieg.

Die Kadi-Anekdoten, die im Munde des Volkes im Umlaufe ſind, könnten eine ſtattlihe Reihe von Bänden füllen ; in allen kommt die Findigfeit und oft die Spißfindigkeit des Richters zur Anſchauung.

Ein Kameeltreiber gerieth einmal während der Reiſe mit dem Miether über die Ladung des Kameels in Zwiſt. „Womit iſt es beladen ?“ fragte der Kadi, dem. der Fall zur Entſcheidung vorgelegt wurde. Der Kameeltreiber erklärt nun: „Mit Kaffee et cetera (und ſo weiter), mit Datteln et cetera, mit Reis et. cetera; die Ladung iſt größer, als ih gedacht habe, der Kaufmann muß mir eine höhere Miethe bezahlen.“ — Der Kadi entſchied: „Nun gut, nimm das et cetera herunter, der Reſt mag, wie ausbedungen, oben bleiben, und damit: Gott befohlen!" ;

Ein Chriſt hatte im Bazar mit einem Emir Streit bekommen und deſſen grünen Turban zu Boden geworfen, was für den Angeklagten die Todesſtrafe nah ſi<h ziehen konnte. Der Unglü>liche redete \ſi< vor dem Kadi, der gleihfalls Emir war, aus, daß er den Emir niht erkannt habe, denn es ſei die Farbe ſeines ZTurbans ſo dunkel, daß er fie für blau und den Träger folgli<h für einen Religionsgenoſſen gehalten habe. Der Kläger erſcheint racheſhnaubend. von allen Emiren der Stadt begleitet.

__ nWas ſoll dieſe Menge?“ ruft der Kadi aus. „Kommt Jhr hierher, um Euh ſelber Recht zu ſchaffen? Verlaßt das Gemach! Und Du, Chriſt“ — ſagt er, ſi< an den Kläger wendend, der ihm, ehe er eingetreten, vom Fenſter aus bezeichnet worden war — „der Du wahrſcheinlih zur Zeugenſchaft erſchienen biſt, warte draußen, bis ih Deiner bedarf“.

Gimmermann, Geſch. des orient. Krieges.

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„Ya Allah (O Gott)!" rief dieſer verleßt aus, „träumſt Du, Kadi? Gelobt ſei Gott, ih bin Muſelmann und ſtehe hier als Kläger.“

„Masch’' Allah (Werf Gottes)!" entgegnet der Kadi. „Du, ein Moslim? Und trägſt einen Turban, der ſo entfärbt iſt, daß ih ihn im vollen Tage für den eines Giaux halten konnte? Wie willſt Du, daß der Chriſt ihn im Dunkel des Bazars hätte unterſcheiden ſollen? Schäme Dich, Emir und geh" Deines Weges!“

Das Leben des Chriſten war gerettet.

Die Kleidung der Ulemas unterſchied ſich von jener der anderen Muſelmänner einzig und allein dur< die Turbanform. Der Stoff für ihre Kleidung iſ Wolle ohne jede Beimiſchung von Seide. Sie ritten chedem niemals auf Pferden, ſondern bedienten ſi< der Maulthiere und Eſel. Heute jedo<h find ſie dur< das nationale Kleid, welches ſie mit einer gewiſſen Anlehnung an die fränfiſhe Tracht der Reformtürken beibehalten haben, leiht zu unterſcheiden. Nur gelegentlich der Bairam-Ceremonien erſcheinen ſie in einer Art Feſtkleid, das durch die gleihen Farben ihre NRangclaſſen kennzeichnet. Der Scheik-al-Fslam trägt weiß, denn weiß und {warz ſind die vom Profeten anempfohlenen Farben, wie roth und gelb von ihm verpönt wurden. Dann kommen die grünen und endlich die violetten Kaftans. Die Fußbekleidung iſ für Alle {<wefelgelb; ehedem trugen Mollahs und Müderris (Profeſſoren) dunkelblaue Schuhe. Die Ulemas ſtehen als Kundige und Pfleger des Geſeßes beim - Volke in größtem Anſehen und haben -auf dasſelbe Einfluß, es iſt dies vollflommen naturgemäß; ſind ſie doh gewiſſermaßen die Hüter des nationalen Daſeins, denn der Jslam iſt für den Osmanen Glauben und Nationalität zugleich.

Daß die jüngſte blutige Kataſtrophe, welche ſih im Konak Midhat Paſchas abſpielte, auf die ganze Lage der Dinge im Oriente einen gewaltigen Einfluß nehmen würde, war wohl Federmann klar, und namentli<h ſagte man eine ve ränderte Haltung Serbiens voraus.

Und in der That waren bereits bei der Pforte Nachrichten aus Belgrad eingelaufen, welche deutli<h auf einen bevorſtehenden Angriff Serbiens hinwieſen, und es beunruhigte insbeſondere die ſehr verbürgte Kunde, daß Serbien néuerli< 50.000 Chaſſepot-Gewehre und ſe<hsundſe<zig Krupp'\he Geſchüße mit kürzeſter Lieferfriſt in Beſtellung gebracht habe.

Die Türken verminderten dieſe Nachricht mit der Errichtung eines Lagers nächſt Beykos, an derſelben Stelle, wo Kaiſer Franz Joſef die Revue über die türfiſhen Truppen abhielt. Nath türkiſhen Angaben ſollten in -Beykos 80.000 Mann zuſammengezogen werden; in gut unterrichteten Kreiſen glaubte man jedo<h, daß die

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