Illustrierte Geschichte des Orientalischen Krieges von 1876-1878. : mit 318 Illustrationen, Plänen, Porträts und zwei Karten, str. 298

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Türken immerhin 20.000 Maun an dieſer Stelle concentriren könnten. Daß man gerade Beykos dazu auserſehen, ſchien in der no< immer hbefürchteten Ueberrumpelung dur< ein ruſſiſches Armeecorps ſeinen Grund zu haben, welches mit Leichtigkeit in Riva landen und von dort auf der dur< Abraham Paſcha erbauten Straße ohne Berlezung des Meerengen-Vertrages bis Conſtantinopel vorrü>en konnte.

Die in der Beſika-Bai befindliche engliſche Flotte ſchien auh dieſe Möglichkeit in?s Auge gefaßt zu haben. Der Admiral derſelben erhielt jede Stunde durch das Conſtantinopeler meteorologiſche Fnſtitut telegraphiſche Wetterberichte ; wenn aber dieſelben einmal dur< drei Stunden ausbleiben ſollten, ſo hatte die Flotte ſi< gegen Conſtantinopel in Bewegung zu ſeßen. General Jgnatieff war ernſtlih für ſein Leben beſorgl und hatte au<, dur< die ihm ſeitens der türkiſchen Regierung zugekommenen Winke eingeſchüchtert, die beiden ruſſiſchen Kanonenboote na< Bujukdere beordert, woſelbſt dieſelben ſi< knapp vor dem ruſſiſhen Botſchafts-Yali (Sommerſitz) vox Anker legten.

Der Sultan verließ ſeinen Kiosk nicht; die Wachen daſelbſt blieben no< immer verſtärkt und die Majeſtät noh immer „leidend“. Murad hatte wiederholt den Wunſch geäußert, FremdenLegionen zu errihten, wodur< ſi< die Armee tief verleßt fühlte, und daher kam es, daß fortwährend Verhaftungen von Offizieren aller Grade vorkamen, welche ſi< mißliebig über die Jdee des Sultans ausſprachen. Die ſämmtlichen Botſchafter und Geſandten befanden ſi bereits ſeit aht Tagen im Beſiße ihrer Accreditive; wel<he Hinderniſſe

der Uebergabe derſelben entgegenſtanden, lag nicht

ganz flar. Fn diplomatiſchen Kreiſen wollte man dieſe verzögerte Uebergabe der Beglaubigungsſchreiben einerſeits mit der Krankheit des Souverains, andererſeits damit in Zuſammenhang bringen, daß die Beglaubigung eines Geſandten erſt na < geſchehener Krönung (als welche die Schwertumgürtung gelten mochte) erfolgen könne.

Allein, der Sultan war weder ſo krank, um nicht einen Botſchafter empfangen zu können, noh fonnte die Einkleidung mit dem Schwerte als Krönung aufgefaßt werden, da dieſelbe nah islamitiſchen Begriffen als jene Ceremonie gilt, welche den verkündeten Beherrſcher der Gläubigen mit der Militärgewalt bekleidet. Es ſchienen alſo tiefer liegende Gründe obzuwalten und man griff beſtimmt nicht fehl, wenn man die wahre Urſache der Verzögerung in dem Umſtande ſah, daß Sultan Murad am Tage der Schwertumgürtung die neue Verwaltungs - Vorſchrift, die liberal-conſtitutionelle Regierungsart, zu verfündigen wünſchte. Man zweifelte jedoch ſehr daran, daß er dies würde thun föunen. Die Miniſter waren in dieſer Beziehung uneinig und das muſel-

männiſhe Publicum, mit Ausnahme einer ſehr feinen Anzahl, fand die conſtitutionellen Jdeen des Sultans und der Anhänger dex neuen Regierungs8weiſe niht na< ſeinem Geſhma>e. Der Mohammedauer wird niemals einwilligen, aufrichtig die Gewalt auf dem Fuße vollkommener Gleichheit mit den Chriſten zu theilen.

Dieſer Meinung war der Großvezier Mehemed Ruſchdi Paſcha und die Mehrzahl der anderen Miniſter \{loß ſi< ſeinen Anſchauungen an. Mi dhat Paſcha machte eine Ausnahme, war er doh der Chef und Banuerträger der liberalen Partei; aber dieſe Partei zählte unter den eigentlichen Türken wenig Anhänger.

Nach dem ihnen gelungenen Sturze des früheren Großveziers und des Scheik-al-Fslam hatten die Soſtas ſi< um Midhat Paſcha geſchaart und eine „Verfaſſung“ verlangt. Sie wußten beſtimmt nicht, was dieſer Begriff bedeute; erſt als über dieſe Anregung ſi< Licht zu verbreiten begann und das Organ der e<t türkiſ<hen Partei eine Artikelreihe gegen die Verfaſſungsprojecte veröffentlichte, erſt da begannen die Soſtas - zu erkennen, um was es ſi< handle. Der türkiſche Fanatismus kam zum Wiedererwachen ; die liberale Gluth der Softas war bereits bedeutend abgefühlt. Sie wagten zwar no< nicht, Midhat Paſcha, ihr Jdeal leßten Datums, zu verleugnen, hatten aber ſ{hon längſt aufgehört, für ihn ſo zu ſ<hwärmen, wie in den erſten Tagen ihrer Bewegung. Sie hielten zwar ihre Forderung nah einer conſtitutionellen Regierung8weiſe aufrecht, ſtellten aber eine Bedingung.

Das neue Syſtem — ſagten ſie — müſſe auf dem Scheriat, dem geheiligten Geſeßze der Muſelmänner, begründet ſein; der kaiſerliche Hat hatte auh nihts Anderes in Ausſficht geſtellt. Somit waren aber über dieſen Punkt alle Türken einig, mit alleiniger Ausnahme Midhat Paſchas und ſeiner wenigen Anhänger. Unter der von allen Türken verlangten Bedingung iſt eben eine Verfaſſung unmöglich, ausgenommen, daß man die Chriſten von den Rechten derſelben aus\{<ließen wollte. Das Scheriat, welches die Baſis der Conſtitution bilden ſollte, läßt die Gleichheit zwiſchen dem Gläubigen und dem Chriſten in keinerlei Weiſe zu. Der einzige Vortheil, welhen er dem Leßteren zugeſteht, iſt das Recht, an den Schub der Moslims zu appelliren, vorausgeſett, daß er ihm die Steuer bezahlt hatte. Das iſt aber auh Alles. Was das Princip der Gleichheit der Laſten und der Rechte anbelangt, ſo iſt dies ein Gedanke, welcher in einem muſelmänniſchen Kopfe nie Eingang findet. Unter tauſenden genüge ein Beiſpiel.

Wiewohl die Regierung es wiederholt feierli<h verkündet hatte, ſo bleibt bis heute doh die Zeugenſchaft eines Chriſten in einem Criminalproceſſe zwiſchen Türken und Chriſten niemals giltig. Zur Verurtheilung eines muſelmänniſchen Mörders oder