In jedes Menschen Gesichte steht seine Geschichte : Lehrbuch der Physiognomie : mit 140 Abbildungen

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63 gibt Menfchen, die ganz unbewußt und ohne fich nähere Recenjhaft geben zu fünnen, in den Mienen anderer unzmeideutig zu lejen verftehen. Die hauptfächlichiten Ausdrudsmeifen find aber allen Menfchen bekannt, was das Erfafjen gejchilderter Gefihtsausdrücde bemweilt. Wem würde beijpielsmeife Schillers Elare und [Harfe Schilderung nicht fofort als Iebendiges Bild vor Augen treten, wenn er jagt: „Troßig jehauet und fühn aus finfteren Wimpern der Yüngling”. Die Begabung im Antlit der Mitmenjchen, wie im offenen Buche zu Iefen, ift nur Wenigen angeboren, darum ijt e3 erforderlich, die einzelnen Merkmale kennen zu Iernen, die der praftiihen Beobadhtung al3 Grundlage dienen müffen.

Wenn bei lebhaften Gejpräd, und bier treffen wir uns bereit3 mit 'Piderit, „gemwijje mimijche Gefichtsbemegungen ji) unverhältnismäßig oft und bei geringfügigen Veranlajjungen wiederholen, jo darf man überzeugt fein, daß diefe mimifchen Züge jich mit der Zeit zu phyfiognomijchen ausbilden werden, und man wird bei der Beurteilung eines Menjchen jelten fehlgehen, wenn man jolden mimifchen Zeichen eine phyjiognomijche Bedeutung beimißt“. Die jtete Hebung gemwiljer Musfelpartieen Ihafft aljo dauernde phyjiognomifche Merkmale. Dieje, durd) fortgejegte Wiederholungen hervorgerufenen phyjiognomifchen Züge müfjen feineswegs von Emigfeitsdauer fein. Krankheiten, Kummer, Erbitterung Eönnen leicht dauernde Gtirnfalten, jogenannte „Summerfalten“ und Mundfalten erzeugen; jobald jedoch Zeiten der Gejundheit, Tage des Glüds kommen, glättet ji das Untlit wieder, indem neuer Fettanfat die Falten mildert oder zum Schwinden bringt. Wo Familien aufreibend um des Lebens Notdurft Fämpfen, bildet bei allen Angehörigen ein dauernder typijcher Gejihtsausdrud fih aus. ES jei bier nur an die Weber erinnert. Läht jpäter die Not nad), fteigen die Löhne, bejjert ji) die Emährung, mit einem Wort, fommen bejjere geiten, jo wird die ehemalige Leibesbejchaffenheit eine andere, die gedrücte Stimmung hebt, der Gejichtsausdrud ändert ic). Die yamilien fünnen trogdem ihrem urfprünglichen Geiftesleben und Streben, ihrer politiihen Gefinnung, ihren Sdealen treu bleiben, die bejjere Ernährung allein, die Möglichkeit, hier und da fünjtlerifche Darbietungen zu genießen, mäßigt die gegenjägliche Spannung und gleicht die Strenge der Gefichtszüge aus.