Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens : mit Original-Beiträgen der hervorragendsten Schriftsteller und Gelehrten. Bd. 6.

Roman von Adolph Stre>fuß. | 89

leſen, mit voller Luſt ſich dem Zauber der Muſik hingeben önnen, aber das vermochte ex niht. Er nahm ein Buch vor, aber wenn er mit Mühe ſi< zur Aufmerkſamkeit ge= zwungen, einige Seiten geleſen hatte, dann flatterten die rebelliſchen Gedanken auêeinander, bald hinüber nah Linau, bald in alte Zeiten zurü> na<h dem Schloß Oſternau; bald verfolgten ſie Storting auf ſeinen Reiſen, bald ſuchten ſie einzudringen in eine dunkle Zukunft, und ähnlich er= ging es ihm, wenn ex ſi< an den Flügel ſeßte, nah furzer Zeit ſhon ſanken die Hände von den Taſten, ex lehnte ſi< in den Seſſel zurück und überließ ſich dem troſt= loſen Grübeln!

Nach dem Beſuche Wangen's und Albrecht's fühlte er ſich no< unkbehaglicher als zuvor. Wangen war ſo ſelt= jam zerſtreut, ſo falt und nur gezwungen freundlich ge= weſen, ganz anders als bei ſeinem erſten Beſuch; hatte er eine Ahnung deſſen, daß während ſeiner Abweſenheit Bertha, wenn au< nur während eines furzen Augenbli>s, aber doch während eines Augenbli>s, in den Armen des Freundes geruht, mit dieſem glühende Küſſe ausgetauſcht hatte? Cin peinliches Gefühl tiefer Reue erfüllte Egon bei dieſem Ge= danken, und zugleih ein Gefühl bitterer Scham darüber, daß ex in jenem Moment ſi<®ni<t ſelbſt zu beherrſchen vermocht hatte. Fahre lang war er mit redlihem Willen beſtrebt geweſen, ſich ſelbſt zu erziehen, er hatte geglaubt, Herr ſeiner ſelbſt, ſeiner Leidenſchaft zu ſein, da hatte ein unglü>ſeliger Augenbli> genügt, um ihn untreu den Grundſäßen der Ehre zu machen, denen naczuleben er ſo feſt ent= ſ<loſſen war. Sein gutex Engel war von ihm gewichen !