Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens : mit Original-Beiträgen der hervorragendsten Schriftsteller und Gelehrten. Bd. 6.

Roman von Adolph Streu, 93

von dem Aufenthalt der jungen Dame und ihrex Abſicht, am Sonntag Linau zu verlaſſen, Kenntniß zu geben. Sie werden dieſen Brief meiner Re<hnung nah am Sonnabend Morgen erhalten und daher in den Stand geſeßt fein, ſich [rei darüber zu entſ<ließen, ob Sie vielleiht am Sonn-= abend no< einen Beſuch in Linau machen wollen.“

Egon ließ den Brief ſinken, er konnte niht weiter leſen, die lebten Zeilen der klaren Schrift floſſen in einander, die Buchſtaben verwirrten ſich, ſie tanzten auf dem Papier,

Lieschen war noh in Linau, noh einen Tag nur, aber dieſer Tag gehörte ihm! Was fümmerte es ihn, daß ihm der Arzt verboten hatte, ſich der Erſchütterung durch eine iveite Wagenfahrt auszuſeßen! Ex mußte nach Linau, nicht eine Minute durfte er unnüß verweilen.

Lieschen in Linau! Sie hatte ihn gepflegt in jener taht, ihr liebliches Bild hatte er geſehen in ſeinem Halb= bewußtſein, ſie hatte mit liebender, ſanfter Hand ihm die Wunde gekühlt, hatte ſi<h zu ihm niedergebeugt und ihm angſtvoll in das halbgebrochene Auge geſchaut. Sein Traum war fein Traum geweſen! :

Und ex hatte glauben können, daß Bertha ſeine Pflege= rin geweſen ſei! Ein Gefühl unausſpre{<li<hen Wider= willens erfüllte ihn, als ex an Bertha dachte; ihr Bild erſchien ihm in glänzender, verführeriſcher Schönheit, aber dieſe Schönheit hatte keinen Neiz mehr für ihn, ſie-zog ihn nicht an, ſie ſtieß ihn ab.

Weshalb hatte Bertha ihm verheimlicht, daß Lieschen in ihrem Hauſe wohne? Weder ſie ſelbſt, noh ihr Gatte, noch ihre Schwägerin hatte Lieschens Anweſenheit au<h nux erwähnt.