Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens : mit Original-Beiträgen der hervorragendsten Schriftsteller und Gelehrten. Bd. 12.

140 Das Herzblättchen.

Eines Tages kam der Meiſter von einem Ausgang heim — es wax gerade ein halbes Jahr ſeit dem Todes= tage verfloſſen — und ſein Herz war tief bekümmert und ſeufzte unter einer ſ<hweren Laſt. Schwermüthig gedachle er der Heimkehr zu früheren Zeiten, wie ihm dann ſein trautes Weih liebevoll entgegen getreten war und mit zärt= lichem Kuſſe ihn bewillfommnet halte. Das wax nun Alles vorüber, und wenn ex na<h Hauſe kam, fand ex ſein Heim verödet. So ſ{<merzumfangen wax ſein Jnneres, daß ex den Hohnruf der ungezogenen Gaſſenbuben niht einmal bemerkte, welcher ſonſt ſeinen Aerger ſo leicht herausfor= derte. Das „Leimpfännchen“ ging heute an ſeinen Ohren ſpurlos und ohne einen Eindru> zu hinterlaſſen vor= über.

Als ex die Werkſtatt durchſchritten hatte, öffnete ex gedankenabweſend die Thüre des Kinderzimmers, welches zu betreten ex ſonſt ſtreng vermied. Es war Niemand in dem Zimmer als ein kleines Kind, welches in der Wiege aufre<t ſaß und in deſſen zarten blonden Löckchen die Sonnenſtrahlen ſpielten.

Meiſter Müller blieb einen Augenbli> wie gebannt auf der Stelle ſtehen und ſchaute ſtarr auf tas Kind. Dann ging er unwillkürlich einige Schritte vorwärts bis zu dex Wiege der kleinen Helene. Die Kleine jauchzte vor Ver= gnügen und ſtre>te ihm die dicen Aexrmchen entgegen. Der liefgebeugte Mann ſchaute lange ſchweigend auf das hold= ſelige Geſchöpf und es war ihm zu Muthe, als ob warme Fluthen ſein Herz durchrieſelten und gewaltſam die Eiſes= dede durchbrachen, welche ſich um daſſelbe geſtaut hatte.