Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens : mit Original-Beiträgen der hervorragendsten Schriftsteller und Gelehrten. Bd. 12.

240 Aus dem „Kampf um's Daſein“ in der Natur.

Eigenſchaften. Selbſt bei den Thieren, welche Herder „die jüngeren Brüder des Menſchen“ nennt, iſt das Gefühl des Rechts und des Mitleids noh nicht erwacht, oder ſteht doch no< auf einer ſo niedrigen Stufe der Entwi>lung, daß wir die ſchwachen Keime kaum zu exkennen vermögen. Am ſchonungsloſeſten wird der Kampf um das Daſein in der Pflanzenwelt geführt, obſchon auf den erſten Blik in ihr Alles friedli< und ruhig zuzugehen ſcheint. Durch falſche Vorſtellungen ſind wir gewöhnt, in den Pflanzen die harmloſeſten aller Organismen zu erbli>en, vielleicht deshalb, weil wix bei ihnen kaum die erſten Spuren des Empfindens zu entde>en vermögen. Wix betrachten ſie ge= wöhnli<h mit ganz anderen Augen als die Thiere, weil ihnen das Bewußtſein fehlt. Dieſer Mangel {ließt indeſſen niht aus, daß ſie die ihrer Organiſalion angemeſſenen Beſtrebungen mit rüd>ſichtsloſer Energie verfolgen. Den Tiger, um nur ein Beiſpiel aus Tauſenden heraus zu greifen, pflegen wir ein grauſames und blutdürſtiges Thier zu nennen, weil ex andere Thiere tödtet, um davon zu leben, weil er ſeine Jungen und, wenn er angegriffen wird, ſi< ſelb mit erbittertem Muthe vertheidigt, und der Epheu gilt uns als ein Symbol der Freundſchaft, man wand einſt ſeine Ranken mit denen des Weins um den Thyxſosſtab, und in Jtalien flo<ht man ſeine Blätter in die Lorbeerkränze, die das Haupt dex Dichter zieren ſollten. Und dieſes Freundſchaftsſymbol rankt ſi< an anderen Bäumen empor, ſchlägt ſeine Saugwurzeln tief in deren Rinde, ſaugt den Nahrungsſaft aus deren Zellen, umflammert und umwuchert ſie, nimmt ihnen Luft und Licht