Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens : mit Original-Beiträgen der hervorragendsten Schriftsteller und Gelehrten. Bd. 6.

le von E. Merk. = S 119

fah, wie noh immex die Blicke des fremden Mannes an Emiliens bleichen Zügen hingen, und zerbra<h ſich den Kopf, wel? räthſelhafſter Zuſammenhang zwiſchen dieſen beiden Menſchen beſtehen müſſe, die ein Zufall in dieſer Einſamkeit zuſammengeführt hatte. :

Ueber Emiliens Wangen floſſen große langſame Thrä-= nen herab, als ſie in dem eigenen Gemache angekommen waren, und ſie horte angſtvoll nah jedem Lärm, der von unten heraufflang. Es wurde indeß ſtill und ſtiller und Bertha {lief daher bald ein. ES mochte Mitternacht ſein, als Cmiliens Stimme ſie we>te. Die Freundin ſtand vollſtändig angezogen an ihrem Lager. Das Mond= lit, das hell dur< die Fenſter fluthete — ließ ihre Züge todtenbleih erſcheinen.

„Hörſt Du nicht Jemand ſtöhnen, Bertha?“ frug ſie haſtig. „Stöhnen, wie unter ſ{hweren Schmerzen, wie im Fieber. J< höre es ſeit Stunden, nun konnte ih niht mehr an Ruhe denken. J< weiß, es iſt oben in dem Zimmer de3 — Fremden. Wir müſſen ihm Hilfe ſchaffen — es iſt unſere Pflicht.“

„Aber Emilie, ich höre gar nichts,“ erwiederte Bertha, indem ſie ſi< den Schlaf aus den Augen rieb und ihr Kleid überwarf, „nux die Aeſte dex Bäume ächzen im Nachtwind. Wie aber ſollten wix au<h um Mitternacht dem fremden Mann Hilfe verſchaffen? J< weiß nicht, wo die Mägde ſ{<lafen, und Du biſt nicht ſo alt, mein Herz, daß man Dein Mitleid Dix nicht mißdeuten könnte. Jh bin frei= lich eine häßliche alte Jungfer, aber ein Reſt von Mädchen= ſchüchternheit iſt auh in mix ſißen geblieben,“