Bitef
Perfekt getanzte Fieberträume Erster Blickfang; ein Holzsessel, der an einer metallenen Krampuskette von der Decke hängt. - Im Halbdunkel der Bühne hat sich eine Handvoll Leute zum Videoschauen niedergelassen. Auf Bildern verschidenster Größen wie bei einer Fernseher-Verkaufsschau flimmert ein alter Herr von der Rückwand. - Links im Vordergrund schickt sich einer an, ein Ei zu kochen. Die ersten Impressionen von „Alw'ays The Same Lies“ (für meinen Geschmack holprig übersetzt mit „Immer das Selbe gelogen“) des 28jährigen belgischen Choreographen, Schauspielers, Tänzers, Fotografen und Filmemachers Wim Vandekeybus, inspiriert von der Begegnung mit dem 88jährigen Hamburger Künstler Carlo Verano. Einen roten Faden zu finden in diesem chaotischen Puzzle aus Klettereien und sonstigen akrobatischen Einlagen an und in Hängematten und Stühlen, die von der Decke baumeln, Musik (Peter Vermeersch. interpretiert von der Formation XLegged Sally, Charo Calvo, Carlo Wegener), Röcheln und orgistischem Stöhnen, Schreien, Tcxtfctzcn (u, a. über das Kaffeekochen und aus Wagner), babylonischem Sprachengewirr, Dynamik und auch Witz und Videoaufnahmen von Sonntagsfilmern, schien mit über weite Strecken ein Ding der Unmöglichkeit. Eine Frau, aus einer Hängematte hängend, kitzelt zwei auf Eiern liegende Männer. Eine andere ißt einstweilen Schokolade. Ein Sessel wird zersägt. Bewegung, im Sprung aufgefangen. Zirkusreife Jonglcureinlagen mit rohen Eiern. Zum Schluß wird auf einer Stuhlplatte mit Hilfe eines Gaskochers eine Eierspeise gebrutzelt. Das alles vor dem Hintergrund eines reisigen Teppichvorhangs, bestehend aus Kleidern und mit geschickter Beleuchtung (auch hier hatte Choreograph und Mit-Tänzer Vandekeybus, der auch für die Konzeption des Bühnenhintergrunds verantwortlich zeichnete, die Hände im Spiel) effektvoll zur Geltung gebracht. Bei näherer Betrachtung ein Spiegelbild des chaotischen Heute: Menschen weden fallengelassen. Am Sessel wird gesägt. Kampf und Krampf zwischen Mann und Frau. Aggressivität und Lügen, zerbrechlich wie rohe Eier. Das Publikum, eingangs reserviert, überschüttete die Compagnie zuletzt mit gewaltigem Beifall und Standing Ovations. □ Eri Fraunbäum, Nachrichten, 20, VII, 1991.
Jonglierkunst auf dem Eierbett Salzburg - Kann ein Gesicht, seine prägnante Ausstrahlung, die einzigartige Geschichte, die seine Furchen und Falten erzählen, in Bewegung, Tanz, akrobatisches Theater auf der Bühne umgewandelt werden? Es kann. Das behauptet zumindest Wim Vandekeybus rpit seiner bislang letzten Produktion Immer Das Selbe Gelogen, die in Salzburg uraufgeführt wurde und gleichzeitig die Sommerszene 91 eröffnete, welche heuer unter dem Motto „Wiedererkennen der Fremdkörper“ steht. Die Begegnung mit dem 88jährigen (Lebens-) Künstler Carlo Verano hat den Holländer und seine Brüsseler Compagnie zu dem neuen Stück inspiriert: Zu Beginn stellen die Tänzer leise Projektoren auff den mit einem Teppich aus Kleidern bedeckten Boden und werfen Bilder dieses in Hamburg lebenden Mannes auf eine Leinwand. Wider die Schwerkraft Immer wieder werden Bandaufnahmen, Ausschnitte aus Gesprächen mit ihm eingespielt, die die Musik von Peter Vermeersch unterbrechen: manchmal rezitieren die Akteure Fetzen aus diesen Gesprächen, um gleich wieder mit ihren Arien aus Sprüngen und Herausforderungen der Schwerkraft fortzusetzen. Denn dieser bereits zum Markenzeichen von Vandekeybus avancierte Stil, der hierzulande spätestens seit Les Porteuses de mauvaises nouvelles (1989) bekannt ist, bestimmt auch die neue Produktion: Wilde Körper, die keine Verletzungsgefahr zu kennen scheinen und aus schwindliger Höhe in - und Übereinanderfallen, sich wieder zu gemeinsamen Luftsprüngen aufraffen, von einer atemlosen Sucht nach Bewegung ergriffen. Dazwischen immer wieder Augenblicke des Innehaltens, als od das Spektakel aussetzen würde: Wenn der Klciderteppich langsam in die Höhe gezogen wird, wenn zwei Akteure es sich auf einem Bett aus Eiern bequem machen. Eier spielen eine wichtige Rolle in der neuen Arbeit; schon zu Beginn werden sie auf