Brehms Tierleben eallgemeine Kunde des Tierreichs : mit 1800 Abbildungen im Text, 9 Karten und 180 Tafein in Farbendruck und Holzschnitt 1/2

130 Vierte Ordnung: Raubtiere; fünfte Familie: Hunde

lauf ſhnell nah der Schule und hole den Papa!‘ ſo ſtürmte er zunächſt nah meinem Zimmer im Schulgebäude; fand er mich hier nicht, ſo ergriff er meinen Hut und brachte ihn nah dem Zimmer, in welchem ih mi<h gerade aufhielt.

„Es würde die Darſtellung zu ſehr ermüden, wenn ich alle ſeine übrigen Fähigkeiten und Begabungen, die man ſonſt als <harakteriſtiſ<hes Merkmal nur bei gewiſſen Hunderaſſen vorausſeßt, anführen wollte; bloß no< zwei Belege für ſeine außergewöhnliche Fntelligenz will ih mix erlauben, hier mitzuteilen. Eines Tages befand i<h mi< in Begleitung des Hundes in der Nähe des Bahnhofes, als eben ein Perſonenzug einlief. Gewohnheitsmäßig überbli>te i< den Train, um vielleicht ein bekanntes Geſicht an einem Koupeefenſter zu entde>en. Dabei ward ih gewahr, daß Tom abwechſelnd bald den Zug, bald mi<h aufmert ſam beobachtete, offenbar in der Meinung, daß ih jemand erwartete. Begierig, zu wiſſen, ob i< ſeine Gedanken erraten, rief i< ihm zu: „Ja, Tom! lauf!“ Da ſtürzte der Hund blißſchnell den Bahnkörper hinauf und hinter dem Zuge her, dem Bahnhofe zu. Auf einem kurzen Umwege eilte ih ebenfalls dahin. Jh kam noch zur rechten Zeit, um mit anſehen zu können, wie er zunächſt haſtig alle angekommenen Reiſenden durhmuſterte, dann die geöffneten Koupees zweimal viſitierte und {<hließlih, als er kein bekanntes, liebes Weſen angetroffen, traurig den Rü>weg antrat. Seit dieſer Zeit diente uns der Hund als der zuverläſſigſte Empfänger aller erwarteten, dem Hauſe naheſtehenden Reiſenden, beſonders zur Nachtzeit. Sobald der betreffende Zug ankam, drängte er ſih durc den dihten Menſchenfnäuel auf dem Perron bis an die Waggons heran, begrüßte ſ{<wänzelnd die erhofften Gäſte, ſhmeichelte ihnen ein Gepäfſtü> ab, ſchritt mit demſelben ſtolz voraus, bildete deshalb zugleih einen vortrefflihen Bahnbrecher und führte ſie uns außerhalb des Perrons Stehenden auf dem kürzeſten Wege zu.

„Leider beſaß der Hund, wie bereits mitgeteilt, neben ſeinen glänzenden Eigenſchaften auch verſchiedene üble Angewohnheiten, die ſhon in ſeiner Jugendzeit das von ihm entworfene Bild wie vereinzelte, dunkle Punkte trübten, mit ſeinem fortſchreitenden Alter zum Teil aber einen ſolchen unheilvollen Charakter annahmen, daß ſie das Zuſammenleben mit ihm immer mehr verleideten. Schon die Gier, mit welcher er troß ſeiner reihlihen Fleiſchfoſt dem Aas nachſtellte, das ſi häufig unter dem Miſte auf dem Felde befand, maten die Spaziergänge in ſeiner Geſellſchaft oft unerträglih .… Während ſeiner Jugendzeit durften die Mädchen ſi< unbedenkli<h den Scherz erlauben, in ſeiner Gegenwart einen beliebigen Gegenſtand in ret ſihtbar zur Schau getragener Weiſe zu hmeicheln und zu liebkoſen; er knurrte und bellte wohl dieſen heftig an, zeigte jedoh dur<h ſein komiſhes Gebärdenſpiel, daß der an den Tag gelegte Zorn nur ein erkünſtelter war; aber ſhon nah wenigen Fahren nahm ſein Weſen bei dieſem Spiele einen ſolchen bedrohlichen Charakter an, namentli wenn es Menſchen oder Tiere waren, die ihm bevorzugt wurden, daß man es aufgeben mußte, um nicht ein Unglü> heraufzubeſhwören .…. Zugleih nahm er ein immer unfreundlicheres und mürriſcheres Weſen gegen die Kinder an und zeigte ſich ſelbſtbewußter in ſeinem Auftreten erwachſenen Perſonen gegenüber. Während er früher z. B. den Schulkaſtellan dur<h S<hmeicheleien zum Öffnen der die Le>ereien enthaltenden Schublade zu bewegen ſuchte, pate er ihn ſpäter, wenn er ihm nicht augenbli>li< zu Willen war, mit allen Zeichen wirklichen Zornes am Arme und zog ihn mit Gewalt nach derſelben. Hatte er ſi in ſeinen erſten Lebensjahren außerordentlich feinfühlend gezeigt, ſo daß ihn ein unfreundlihes Wort bitter kränkte, nahm er von den Meinigen jeßt Schelte und ſelbſt Prügel mit völliger Gleichgültigkeit hin und drohte zu beißen, wenn ihm die Behandlung niht paßte. Nur mir gehorchte er noh unbedingt und ertrug demütig die ihm wegen ſeines widerſpenſtigen Weſens erteilten Züchtigungen. Seine Anhänglichkeit und Sorge für mih ſchien ſogar mit ſeinem Alter zuzunehmen.