Brehms Tierleben eallgemeine Kunde des Tierreichs : mit 1800 Abbildungen im Text, 9 Karten und 180 Tafein in Farbendruck und Holzschnitt 1/2

216 Vierte Ordnung: Raubtiere; ſechſte Familie: Bären.

[leiſes Anpfeifen auf 60 Schritt; ein im Winterlager ruhender Bär äugte ſhon auf 210 Schritt aus ſeinem Verſte>e hervor, obwohl man ſi< ihm ſehr vorſichtig auf Shneeſhuhen und unter dem Winde näherte. Die zahmen Bären unſeres Gewährsmannes erkannten ihn im Freien auf 50—70 Schritt, auf 80—100 Schritt aber leitete ſie ihr Geſicht nicht mehr; auf Brot geſtrichenen Honig witterten ſie im Graſe auf 30 Schritt, tief in ein Maulwurfslo<h geſte> no< auf 20 Schritt.

Das geiſtige Weſen des Vären iſt von jeher ſehr günſtig beurteilt worden. Kein anderes Raubtier“, ſagt Tſ{<hudi, „iſt ſo drollig, von ſo gemütlihem Humor, ſo liebenswürdig wie der gute Meiſter Peß. Er hat ein gerades, offenes Naturell ohne Tücke und Falſ<h. Seine Liſt und Erfindungsgabe iſt ziemli<h {<wa<. Was der Fuchs mit Klugheit, der Adler mit Schnelligkeit zu erreichen ſucht, erſtrebt er mit gerader, offener Gewalt. An Plumpheit dem Wolfe ähnlich, iſt er doh von ganz anderer Art, nicht ſo gierig, reißend, häßli< und widerwärtig. Er lauert niht lange, ſucht den Jäger niht zu umgehen oder von hinten zu überfallen, verläßt ſi<h niht in erſter Linie auf ſein furhtbares Gebiß, mit dem er alles zerreißt, ſondern ſucht die Beute erſt mit ſeinen mächtigen Armen zu erwürgen und beißt nur nötigen Falls mit, ohne daß er am Zerfleiſchen eine blutgierige Mordluſt bewieſe, wie er ja überhaupt, als von ſanfterer Art, gern Pflanzenſtoffe frißt. Seine ganze Erſcheinung hat etwas Edleres, Zutraulicheres, Menſchenfreundlicheres als die des mißfarbigen Wolfes. Er rührt keine Menſchenleiche an, frißt niht ſeinesgleihen, lungert nicht des Nachts in dem Dorfe herum, um ein Kind zu erhaſchen, ſondern bleibt im Walde, als ſeinem eigentlihen Jagdgebiete. Doh macht man ſih öfters von ihm, in Bezug auf ſeine Langſamkeit, unrichtige Vorſtellungen, und namentlih wenn er in Gefahr gerät, verändert ſih ſein ganzes Naturell bis zur reißendſten Wut.“ F< vermag mich dieſer Charakterzeichnung nicht anzuſchließen. Der Bär erſcheint allerdings komiſch, iſt aber nihts weniger als gutmütig oder lieben8würdig, auh nur dann mutig, wenn er keinen anderen Ausweg ſieht, vielmehr geiſtig wenig begabt, ziemlih dumm, gleichgültig und träge. Seine Gutmütigkeit iſt einzig und allein in ſeiner geringen Raubfertigkeit begründet, ſein drolliges Weſen vorzugsweiſe dur ſeine Geſtalt bedingt. Die Kage iſt mutig, der Hund liſtig fein, der Bär dumm, grob und ungeſchliffen. Sein Gebiß weiſt ihn niht bloß auf lebende Beute an; er raubt daher nur ſelten. Lehre und Unterricht nimmt ex nur in geringem Maße an; wirk: licher Freundſchaft zu dem Menſchen iſt er niht fähig.

Der vorſichtige Beurteiler wird nun allerdings nicht überſehen dürfen, daß nicht bloß einzelne Bären, ſondern auch die Geſamtheit der in verſchiedenen Gebieten hauſenden zweiſellos ret verſchieden geartet ſein können und ſind, je nahdem äußere Umſtände ihr Weſen, ihre Lebensweiſe beeinfluſſen. Dies beſtätigen ſowohl einzelne Erlebniſſe als auh zuſammengefaßte Erfahrungen. Neuerdings hat Oberförſter Kremeng ſeine langjährigen Erfahrungen über die in den Rokitnoſümpfen lebenden Bären in einer beſonderen und ſehr lehrreichen Schrift niedergelegt, verwahrt ſich jedo<h ausdrüd>li< dagegen, daß ſeine Beobahtungen durchweg auch für den Meiſter Peß anderer Gebiete bezeichnend ſein ſollen. „Jm allgemeinen“, ſagt Kremeng, „iſt der Bär nicht grauſam oder blutdürſtig zu nennen. Wäre er leßtteres, ſo fände ſih für ihn tagtäglih Gelegenheit, es auf die eine oder andere Weiſe zu äußern, und es dürfte alsdann bei ſeiner ungemeinen Körperſtärke wohl die Frage in Erwägung gezogen werden, ob es nicht geboten ſei, ihm mehr zuzuſeßen. Es iſt mir nicht ein Fall vorgekommen, daß er jemals bei ſeinen Wanderungen und Begegnungen mit Menſchen dieſe angenommen hätte. Fm Gegenteile wird er in den meiſten derartigen Fällen eiligſt flüchtig oder ahtet im Vollbewußtſein ſeiner Kraft des elenden Erdenbewohners nicht und ſucht höchſtens ſeinen Unwillen gegen ihn dur einen fingierten Angriff mit kurz abgebrohenen Brummtönen zu äußern. Der Bär iſt vielmehr gutmütiger Natur, obgleich ihm