Brehms Tierleben eallgemeine Kunde des Tierreichs : mit 1800 Abbildungen im Text, 9 Karten und 180 Tafein in Farbendruck und Holzschnitt 1/2

Landbär: Geiſtiges Weſen. Eigenheiten. 217

unter keinen Umſtänden zu trauen iſt; beſonders will er niht gereizt und in ſeiner Ruhe niht plöglih geſtört ſein. Es ſte>t ein gutes Stück Phlegma in ihm. Behaglichkeit liebt er ungemein, und ſeine Angriffe verraten eine gewiſſe Offenheit, Geradheit, Ritterlichkeit, die nihts gemein hat mit der feigen Mordluſt des Wolfes und der hinterliſtigen Tücke des Ludſes. Ja, in einzelnen Fällen kann er ſih zu einem gewiſſen Galgenhumor verſteigen.

„Sein Mißtrauen legt der Bär niemals ab, es bildet den roten Faden, der ſih durch fein ganzes Leben hindur<zieht, und der ſein ganzes Thun und Laſſen beſtimmt. Wer jemals Bären im Freien beobachtet, beſonders aber, wer Bären aufgezogen, längere Zeit gehalten und ſi viel mit ihnen beſchäftigt hat, dem kann es niht entgangen fein, mit welchen mißtrauiſhen Bli>ken jede Handlung und Bewegung von ihm beobachtet wird, wie er, ſcheinbar teilnahmlos, do< von der Seite her argwöhniſch jeden Tritt und Schritt verfolgt und bei einer Annäherung ſtets ſeit- oder rü>wärts auszuweichen ſucht. Jh will nur noh anführen, daß es ſih niht ſelten ereignet, daß der Bär dem Buſhwächter, der ihn in ſeinem Lager zu umgehen pflegt, auf deſſen Fährte folgt und erſt dann wieder ſein Lager aufſuht, wenn er die Überzeugung gewonnen, daß ihm von dieſer Seite keine Gefahr droht. Des Vären Thun und Laſſen iſt eben infolge ſeines ſtarken Mißtrauens unberechenbar, und hierin liegt auch der Grund dafür, daß ſeine vollkommene Zähmung unmöglich und daß bei den Jagden ſtets die größte Vorſicht nötig iſt. Die häufigen Begegnungen des Vären mit Menſchen, beſonders mit Beeren - und Pilzſammlern, Holzarbeitern 2c., enden ſtets ganz friedlih, höchſtens mit Anbrummen oder, wenn es ſchon ſtark hergehen ſoll, mit einigen mitunter etwas unſanften Ohrfeigen und Überrumpelungen. Jn den meiſten Fällen wird er ſofort flüchtig. Überhaupt iſt des Bären Mut nicht weit her, nur wenn er gedrängt, beſonders wenn er bei den Jagden von Hunden und Menſchen hart in die Enge getrieben wird, nimmt ex, um den Aus3weg zu erzwingen, nicht ſelten mutig den Menſchen an, ſtößt ihn mit den Vorderbranten in den Schnee und ſucht ihm eiligſt noh mit den Fängen eine kleine Verwundung beizubringen. Jm allgemeinen pflegen die Bären, die ſih {let beileibe eingeſchlagen haben, auch diejenigen zu ſein, die ſih im Frühjahre beſonders im Schlagen von Vieh auszeihnen. Jch habe jedo<h beobachtet daß dieſe Untugend hierorts mehr einzelnen Värenfamilien eigen iſt und in dieſen wiederum einzelnen Stücken, die ſie auf ihre Nachkommenſhaft übertragen. So ſind beinahe ſämtliche Standbären des Hauptbärenrevieres Schitin Reißer und zeihnen ſih außerdem no durch ihre Boshaſtigkeit bei den Jagden und ſonſt: wie aus, während in den übrigen Revieren wohl auch alljährlich einige Stücke Vieh geraubt werden, das Bärwild dort jedoch ſi im allgemeinen geſitteter und wohlerzogener benimmt. Von den Bären des genannten RNevieres, von denen ich einige mir wohlbekannte bezüglich ihres Treibens mehrere Jahre lang ununterbrochen beobachtete, waren einzelne von einer wahren Mordluſt beſeelt und gaben dieſer Untugend mitunter in Fahreszeiten, in welchen es ihnen durchaus niht an Fraß gebrach, den empfindlichſten Ausdru>. So ſchlug im Juli 1871 ein Vär, im Süden des Revieres beginnend und mordend nah Norden fortſchreitend, im Laufe eines Tages 23 Stück Rindvieh und im Auguſt desſelben Jahres wiederum 8 Stück, ohne au< nur eines ſeiner Opfer anzuſchneiden.“

Wie es unſere Bären im äußerſten Nordoſten ihres Verbreitungsgebietes und zwar in der erſten Hälfte des vorigen Jahrhunderts trieben, ſchildert Steller folgendermaßen: „Auf Kamtſchatka gibt es Bären in unbeſchreiblicher Menge, und man ſieht ſolche herdenweiſe auf den Feldern umherſhweifen. Ohne Zweifel würden ſie längſt ganz Kamtſchatka aufgerieben haben, wären ſie niht ſo zahm und friedfertig und leutſeliger als irgendwo in der Welt. Jm Frühjahre kommen ſie haufenweiſe von den Quellen der Flüſſe aus den Bergen, wohin ſie ſi< im Herbſte der Nahrung wegen begeben, um daſelbſt zu überwintern. Sie erſcheinen an der Mündung der Flüſſe, ſtehen an den Ufern, fangen Fiſche, werfen ſie