Brehms Tierleben eallgemeine Kunde des Tierreichs : mit 1800 Abbildungen im Text, 9 Karten und 180 Tafein in Farbendruck und Holzschnitt 1/2

26 Vierte Ordnung: Raubtiere; fünfte Familie: Hunde.

den dümmſten Augen der Welt nah dem Wolfe hin, bis er kommt und ſih noch eins holt. Nun reißen ſie wieder einige hundert Schritt aus und erwarten ihn abermals.“ An die Nindviehherden wagt ſi< gewöhnlih kein Wolf, weil die Geſamtheit ſih glei<h über ihn hermacht und ihn mit den Hörnern zu ſpießen ſut. Er trachtet nur danach, abgeſonderte Ninder oder Kälber zu erlegen, und ſpringt dieſen ebenſo an die Kehle wie dem Pferde. Schwächere Haustiere ſind verloren, wenn ſie niht re<tzeitig einen ſicheren Zufluchtsort erreihen können, und der Räuber folgt ihnen auf ſeiner Jagd dur< Sumpf und Moor, ja ſelbſt dur< das Waſſer.

Der Wolf beſizt alle Begabungen und Eigenſchaften des Hundes: dieſelbe Kraft und Ausdauer, dieſelbe Sinnesſchärfe und denſelben Verſtand. Aber er iſt einſeitiger und erſcheint weit unedler als der Hund, unzweifelhaft einzig und allein deShalb, weil ihm der erziehende Menſch fehlt. Sein Mut ſteht in gar keinem Verhältnis zu ſeiner Kraft. Solange er niht Hunger fühlt, iſt er eines der feigſten und furhtſamſten Tiere, welche es gibt. Er flieht dann nicht bloß vor Menſchen und Hunden, vor einer Kuh oder einem Ziegenbode, ſondern auch vor einer Herde Schafe, ſobald die Tiere ſich zuſammenrotten und ihre Köpfe gegen ihn rihten. Hörnerklang und anderes Geräuſch, das Klirren einer Kette, lautes Schreien 2c. vertreibt ihn regelmäßig. Jn der Tierfabel wird er als tölpelhafter Geſelle dargeſtellt, welher ſih von Vetter Reineke fortwährend überliſten und betrügen läßt: dieſes Bild entſpricht der Wirklichkeit jedoh durhaus niht. Der Wolf gibt dem Fuchſe an Schlauheit, Liſt, Verſhlagenheit und Vorſicht nicht das geringſte nah, übertrifft thn vielmehr in allen dieſen Stücken. Jn der Regel benimmt er ſi< den Umſtänden angemeſſen, überlegt, bevor er handelt, und weiß auch in bedrängter Lage noch den re<ten Ausweg zu finden. Eine Beute beſchleicht er mit ebenſoviel Vorſicht wie Liſt: ſelbſt gejagt, kommt er äußerſt bedahtſam herangetrabt. Sein Geruch, Gehör und Geſicht ſind glei<h vortrefflich Es wird behauptet, daß er niht bloß ſpüre, ſondern auch auf große Stre>en hin wittere. Ebenſo verſteht er genau, welchem Tiere eine Fährte angehört, die er zufällig auf ſeinen Streifereien gefunden hat. Er folgt dieſer dann, ohne ſi< um andere zu bekümmern. Seine Feigheit, ſeine Liſt und die Schärfe ſeiner Sinne zeigt ſih bei ſeinen Überfällen. Ex iſt dabei überaus vorſichtig und behutſam, um ja ſeine Freiheit und ſein Leben niht aufs Spiel zu feßen. Niemals verläßt er ſeinen Hinterhalt, ohne vorher genau ausgeſpürt zu haben, daß er auh ſicher ſei. Mit größter Vorſicht vermeidet er jedes Geräuſch bei ſeinem Zuge. Sein Argwohn ſieht in jedem Stride, jeder Öffnung, in jedem unbekannten Gegenſtande eine S<hlinge, eine Falle oder einen Hinterhalt. Deshalb vermeidet er es immer, durch ein offenes Thor in einen Hof einzudringen, falls er irgendwie über die Einfriedigung ſpringen kann. Angebundene Tiere greift er ebenfalls nur im äußerſten Notfalle an, jedenfalls weil er glaubt, daß ſie als Köder für ihn hingeſtellt worden ſind. Sieht er ein, daß ihm der Nüchzug verſchloſſen iſt, ſo kauert er ſich ſelbſt im Schafſtalle feig in eine E>e, ohne dem Viehe etwas zuleide zu thun, und wartet angſterfüllt der Dinge, die da kommen ſollen. Ganz ebenſo iſt ſein Gebaren in anderen unangenehmen Lagen ſeines Lebens, beiſpielsweiſe in Fallgruben, welche ſeinen eifrigen Jagden ein jähes Ende bereiteten. Er denkt hier niht an Raub und Mord, vielmehr einzig und allein an Rettung. Der alte Gesner gibt einen Bericht Juſtinus Geblers mit folgenden Worten wieder:

„Ss begab ſi, daß, als ſein Vatter, der ſonderliche Luſt und Belieben zum Jagen hatte, etliche Gruben und Löcher machen laſſen, umb allerley Wild darinnen zu fahen, auff eine Nacht drey oder vier wiederwärtige und ungleiche Thiere in eine ſolche Grube fielen; das erſte war ein altes Weib, welches gegen Abend auß einem Garten kommen, und Kraut, Nüben und Zwiebeln heim tragen wollen: die übrigen aber waren ein Fuchs und ein Wolff. Alle dieſe dreye blieben jegliches an ſeinem Orte, wohin ſie gefallen, und hielten ſich die