Brehms Tierleben eallgemeine Kunde des Tierreichs : mit 1800 Abbildungen im Text, 9 Karten und 180 Tafein in Farbendruck und Holzschnitt 1/2

Wolf: Weſen. Begabung. Fortpflanzung. DA

ganze Nacht ſtille, vielleiht auß Furcht, ja ſelbſt der Wolff, der doh das grimmigſte unter ihnen wax, war nun ein ſanfftmüthiges Schaaff worden, und that keinem kein Leid, nichts deſtoweniger war das Weib, als das verſtändigſte, von Furcht und Schrö>ken, ganß grau und kraftloß worden, und mehr einem todten als lebendigen Menſchen glei<h. Wie nun der Vatter, deß Morgens früh, nach ſeiner Gewohnheit, und auß Begierde nah dem Wilde, die Gruben zu beſihtigen außgeht, erſihet er dieſen ſeinen wunderbarlichen Fang, erſchri>t darüber und ſpricht doh dem Weibe zu, welches durch ſolche Menſchen-Stimme gleichſam als vom Todte erwachte und ein wenig zu ſi ſelber kam. Der Haußvatter ſprang, als ein beherßter Mann, hierauf in die Grube, und ſtach exrſtlih den Wolff, den Fuchs aber {<lug er zu todte, und das halb-todte Weib nahm er auf ſeine Achſel, trug ſie auff einer Leiter auß der Grube, und brachte ſie wieder nah Hauſe, mit höchſter Verwunderung, daß ein ſo ſhädliches und gefräſſiges Thier, als der Wolff, beydes deß Weibes und auch deß Fuchſes verſchonet hatte.“ Anders benimmt ſih der Wolf, wenn ihn der quälende Hunger zur Fagd treibt. Dieſer verändert das Betragen und läßt ihn Vorſicht und Liſt ganz vergeſſen, ſttaelt aber au< ſeinen Mut an. Der hungerige Wolf iſt geradezu tollkühn und fürchtet ſich vor nihts mehr: es gibt für ihn kein Schre>mittel.

Bei älteren Wölfen beginnt die Ranzzeit Ende Dezember und währt bis Mitte Januar; bei jüngeren tritt ſie erſt Ende Januar ein und währt bis Mitte Februar. Die liebesbrünſtigen Männchen kämpfen dann untereinander auf Tod und Leben um die Weibchen. Nach einer Trächtigkeitsdauer von 638 — 64 Tagen, welche alſo der unſerer größeren Hunderaſſen genau entſpricht, bringt die Wölfin an einem geſhüßten Pläßchen im tiefen Walde 3—9, gewöhnli<h 4—6 Junge zur Welt. Fn Kurland wählt ſie, nach einer brieflichen Mitteilung des Kreisförſters Kade, zu ihrem Wochenbette erhabene, dicht mit Holz beſtandene Stellen in den großen Moräſten, welche nicht leiht von Menſchen oder Weidevieh betreten und von den Zägern Traden, d. h. Aufenthaltsorte der Wölfe, genannt werden; im Süden Europas wölft ſie in ſelbſtgegrabenen Löchern unter Baumwurzeln oder au< wohl in einem erweiterten Fuchs- und Dachsbaue. Die Jungen bleiben auffallend lange, nah den von S<höpff im Tiergarten zu Dresden gemachten Beobachtungen 21 Tage, blind, wachſen anfänglich langſam, ſpäter ſehr raſch, betragen ſih ganz nah Art junger Hunde, ſpielen luſtig miteinander und kaßbalgen zuweilen unter lautem, auf weithin hörbarem Geheul und Gefläff. Die Wölfin behandelt ſie mit aller Zärtlichkeit einer guten Hundemutter, bele>t und reinigt ſie, ſäugt ſie ſehr lange, ſchafft reihlihe, dem jeweiligen Stande des Wachstums entſprehende Nahrung für ſie herbei, iſt fortwährend ängſtlich beſtrebt, ſie nicht zu verraten, und trägt ſie, wenn ihr Mißtrauen erregt wurde oder Gefahr droht, im Maule nach einem anderen ihr ſicher dünkenden Orte. Die Jungen wachſen bis ins dritte Jahr und werden in dieſem fortpflanzungsfähig. Das Alter, welches ſie überhaupt erreichen, dürfte ſich auf 12 bis 15 Zahre belaufen. Viele mögen dem Hungertode erliegen; andere ſterben an den vielen Krankheiten, denen die Hunde überhaupt ausgeſeßt ſind.

„Jn der Nähe ſeiner Traden“, ſchreibt mir Kade, „raubt der Wolf nie, weshalb Rehe und junge Wölfe harmlos in einem und demſelben Treiben erwachſen. Bei den meiſten Wolfsjagden habe ih in demſelben Treiben junge Wölfe und junge Rehe erlegt und erlegen ſehen. Dieſen niedlichen Tieren kann aber die Nähe der Wölfe unmöglich unbekannt bleiben, da leßtere ſhon Ende Juli zu heulen beginnen.“ Daß die Wölfin ihre Jungen verſchleppt, hat man vielfah beobachtet. Aber nicht allein ſie, ſondern auch der Wolf nimmt ſich, laut Kade, der leßteren an. Die wiederholte Angabe, daß er ſeine Jungen auffreſſe, wo er ſie finde, ſcheint nur bedingungsweiſe richtig zu ſein. „Abgeſehen davon“, ſchreibt Kade, „daß es einer Wölfin wohl ganz unmöglich wäre, ihr Gewölfe vor des Alten Spürnaſe zu verbergen und vor ſeinen Zähnen zu retten, möchte ih fragen: warum frißt kein Wolf die