Brehms Tierleben eallgemeine Kunde des Tierreichs : mit 1800 Abbildungen im Text, 9 Karten und 180 Tafein in Farbendruck und Holzschnitt 1/3

188 Elfte Ordnung: Paarzeher; dritte Familie; Horntiere.

„Das Bergſteinwild lebt während des größten Teiles vom Fahre na< dem Geſchlechte getrennt; nur gegen die Paarungszeit hin vereinigen ſih Bö>e und Ziegen. Beide bilden Nudel, nicht ſelten aber auh förmliche Herden, welche aus 100—150 Stü beſtehen können; ih ſelbſt zählte einmal genau 135 Böcke. Es mag ſein, daß ſolche Herden faſt alle auf der Gredos lebenden Böe in ſich vereinigen; doh habe ih gelegentli<h eines Treibens auh einmal 74 Ziegen, welche gewöhnlih in kleinen Trupps über das ganze Gebirge zerſtreut zu ſein pflegen, zuſammen geſehen. Unbekümmert um Schnee und Kälte in dem von ihnen erwählten Gebiete bewohnen die Böcke in der Regel ausſchließlih den oberen und höchſten Teil des Gebirges, wogegen die Ziegen ſhon im Spätherbſte die nah Süden gelegenen Wände aufſuchen und in ſtrengen Wintern bis in die Nähe der Dörfer hinabſteigen. Das Nudel wie die Herde wird ſtets von dem ſtärkſten und, was wohl gleichbedeutend, von dem älteſten und erfahrenſten Stü>e geleitet. Langſamen Schrittes ſieht man das Bergſteinwild an den ſteilen Wänden und auf den Graten eines Gebirgszuges dahinziehen, unter allen Umſtänden vorſichtig nah jeder Seite hin äugend und ſpähend und ebenſo fort und fort windend. Das Leittier ſchreitet dem Rudel voran und ſichert, bleibt darauf, nachdem es eine Entfernung von 10—12 Schritt zurü>gelegt hat, ſeinerſeits ſtehen, das Rudel, welches ſi< nunmehr in Bewegung ſeßt, erwartend, worauf es wie vorher weiter zieht. Wenn ein Trupp von Bergſteinziegen weidet, ſtellen ſich ſtets mehrere Stücke ſo auf, daß ſie als Wachen dienen fönnen, und ſichern und winden beſtändig. Bemerkt eine Wachtgeiß etwas Verdächtiges, oder führt ihr der Wind die Witterung eines Feindes zu, ſo ſtößt ſie ein pfeifendes Shnauben aus, ſtürzt ſi<h von ihrem Auslugpunkte herab und wird, wie der ihr folgende Trupp, ]ofort flüchtig, entweder trabend oder in Galopp fallend, je nahdem die Gefahr ferner oder näher iſt. Nach kurzer Zeit unterbricht das Rudel ſeine Flucht, um die Urſ ache der Störung genauer zu erfunden. Führte dieſe das Erſcheinen eines Menſchen herbei, ſo geht der Trupp oder die Herde raſcheren Schrittes weiter und wechſelt dann meiſt bis auf eine halbe, oft bis auf eine volle Gehſtunde; war es ein Wolf oder Hund, welcher nahte, ſo ertlettert das Bergſteinwild einfa eine ſteile Wand und nimmt hier Stellung auf Örtlichkeiten, welche den genannten Verfolgern vollkommen unzugänglich ſind. Unglaublich ſcheint es, daß das Bergſteinwild beinahe ſenkre<te Wände, an denen man auh nicht den geringſten Anhaltepunkt wahrzunehmen vermag, niht allein mit der größten Sicherheit, ſondern auch mit überraſchender Leichtigkeit und Schnelle zu erſteigen im ſtande iſt, und daß ſchon die kleinſten Ziklein, ebenſogut wie die alten Ziegen, mit ihren ſcharfkantigen Hufen an ſolchen Felſen förmlih ſi<h anheften können.

„Wähnt ſi die Herde vollkommen ſicher, ſo legt ſih ein Teil derſelben mit ausgeſtre>ten Läufen behaglih nieder, um auszuruhen und wiederzukäuen, während ein anderer Teil die Spißen der Gräſer und die ſafſtigſten Mitteltriebe anderer Alpenpflanzen, insbeſondere aber die Blüten der niederen Ginſterbüſche (Spartium scoparium und S. horridum), abäſt und 2 oder 3 Stü> als Wachttiere dienen. Brennt die Sonne gar zu ſtart, o lagert ſich das Rudel im Schatten vorſpringender Felſen oder tritt in Höhlen ein, niemals jedoch, ohne durch ausgeſtellte Wachtgeißen für Sicherung genügend geſorgt zu haben. Die Böke ſind immer weniger achtſam und vorſichtig als die Geißen. Sehr alte zumal bleiben öfters hinter dem Rudel oder der Herde zurü> und laſſen zuweilen einen gegen den Wind ſi anſchleihenden Menſchen ſehr nahe herankommen. Anſtatt ſogleich die Flucht zu ergreifen, wie die Ziegen faſt ſtets thun, ſpringen ſie auf einen Felſen oder höheren Steinblo>, äugen den Feind einige Minuten an und bieten ſo dem Jäger oft ein ſicheres Ziel. Z< ſelbſt habe unter ſolchen Umſtänden einmal einen ſehr ſtarken Bok erlegt. Auch auf ſeinen Wanderungen iſt ein von der Herde getrennter Bok weit weniger ſ{heu, als wenn er leßtere begleitet. Ein durch die Treiber in weiter Entfernung von uns angeſtellten Shüßen