Brehms Tierleben eallgemeine Kunde des Tierreichs : mit 1800 Abbildungen im Text, 9 Karten und 180 Tafein in Farbendruck und Holzschnitt 1/3

208 Elfte Ordnung: Paarzeher; dritte Familie: Horntiere.

ſih ſelbſt, ſo auch vielfah in den Alpen. Man treibt ſie in ein beſtimmtes, gänzlich abgelegenes Weidegebiet und ſucht ſie im Herbſte wieder zuſammen, wobei dann nicht ſelten manch teures Haupt fehlt, oder man ſchi>t ihnen täglih oder au< nur wöchentlih dur< einen Knecht etwas Salz, welches ſie auf einer beſtimmten, ihnen wohlbekannten Steinplatte zur beſtimmten Stunde ſehnſüchtig erwarten. Da kommt es dann oft vor, daß ſie ſich zu den Gemſen begeben und mit dieſen wochenlang ein ungebundenes Freileben führen. Solche von Jugend auf im Gebirge weidende Ziegen ähneln ihren wilden Verwandten nicht allein hinſichtlih ihrer Geſtalt, ſondern au< in der Sicherheit und Kühnheit ihres Auftretens, flettern mit Gemſen und Steinböen um die Wette und lernen die Höhe, ihre Freuden und Leiden, ihre Wirtlichkeit und Gefahren ebenſo gut kennen wie wilde Gebirgstiere. Fn den Krainer Alpen habe ic die ſchönen rotbraunen Hausziegen faſt mit demſelben Genuſſe, welchen Gemſen mir bereitet, ſtundenlang beobachtet. Sie weiden ohne alle Auſſicht, jederzeit în geſchloſſenen Trupps, nehmen beſtimmte Wechſel an und halten ſie ein, meiden Stellen, wo Rollſteine ſie verleßen können, und weichen ſolchen, welche ſie bedrohen, mit ungemeinem Geſchi> und bewunderungswürdiger Gewandtheit aus. Fn der That werden ſelbſt in den überaus wilden Kalkalpen Kärntens und Krains nur in ſeltenen Fällen Ziegen dur< Roll: ſteine erſchlagen, ebenſo, wie es hier bloß ausnahmsweiſe einmal vorkommt, daß eine mit dem Gebirge vertraute Ziege ſih verſteigt oder dur< Abſtürzen ihr Leben verliert.

Jm Innern Afrikas weiden die Ziegen ebenfalls nah eigenem Gutdünken, kommen aber abends in eine ſogenannte Seriba oder Umzäunung von Dornen, wo ſie vor den Raubtieren geſüßt ſind. Nicht ſelten begegnet man dort einer bedeutenden Ziegenherde, deren eine Hälfte bu<ſtäblih auf den Bäumen herumklettert, während die andere am Boden weidet. Unter allen Ziegen nämlih, welche ih kennen lernte, iſt mir die Zwergziege als die beweglihſte und geſchi>teſte erſchienen; denn zu meiner niht geringen Bewunderung hat ſie mich belehrt, daß Wiederkäuer auh Bäume beſteigen können. Es gewährt einen reizenden Anbli>, wenn 5—10 ſolcher kleiner Ziegen auf dem Wipfel einer größeren Akazie ſich umher treiben. Jrgend ein ſchief geneigter Stamm hatte das Erklimmen der Höhe ermöglicht, in welcher nun Äſte und Zweige weitere Brücken bilden. Oft ſieht man das kühne Geſchöpf in Stellungen, wel<he man Wiederkäuern kaum zutrauen möchte: mit jedem einzelnen Fuße ſteht die Ziege auf einem Zweige und weiß ſih, unbekümmert um das Schaukeln ihres ſ{<wanfenden Standortes, nicht allein im Gleichgewichte zu erhalten, ſondern dehnt und re>t ſi< auh no< nah Bedürfnis, um den ſaftigen Mimoſenblättern beizukommen. Unter den ſ{<irmförmigen Strauhbäumen der Steppen, welche ihnen das Beſteigen erſhweren, erheben ſi die Zwergziegen meiſt auf die Hinterfüße, um bis zu höheren Zweigen emporreichen zu können, und erſcheinen dann, wie Shweinfurth ſehr rihtig hervorhebt, in ſo abſonderlicher Weiſe, daß man ſie, von fern betrachtet, als menſchliche Geſtalten anſehen kann. Nähert man ſi ſolchem Baume, ſo ſieht man ſi plöglih umringt von einer geringeren oder größeren Anzahl der heiteren Geſchöpfe, welhe nah Art ihres Geſchlechtes jeden ſich nähernden Menſchen bettelnd angehen.

Jm ſüdlichen Marokko, wo der ſo ziemlich von Grund aus verzweigte Arganbaum (Argania sideroxylon) heimiſch iſt und dur ſein ſperriges Aſtwerk das Beſteigen erleichtert, üben die Ziegen Kletterkünſte aus, welhe R. Fannaſch folgendermaßen ſchildert: „Wir waren nicht wenig erſtaunt, während unſerer Reiſe über den Anti-Atlas und dur das SUs, ſehr häufig in 10 m Höhe, auf den Gipfeln der Bäume, unter denen wir hinwegritten, 20 und mehr Ziegen in allen möglichen Stellungen zu erbli>en. Einige ſtanden kerzengerade auf den Hinterbeinen und verſuchten, die Blätter hoher überhängender Äſte zu benagen; andere wiederum ſchliefen in träger Ruhe auf den höchſten Äſten, die kräftig vom Winde geſchaukelt wurden. S<hlugen wir dann an die Stämme und beunruhigten ſonſtwie die Tiere,