Brehms Tierleben eallgemeine Kunde des Tierreichs : mit 1800 Abbildungen im Text, 9 Karten und 180 Tafein in Farbendruck und Holzschnitt 1/3

Schafe: Allgemeines. 215

der Gefangenſchaft ihre Selbſtändigkeit: das Schaf wird im Dienſte des Menſchen ein willenloſer Knecht. Alle Lebhaftigkeit und Schnelligkeit, das gewandte, behende Weſen, die Klettertünſte, das luge Erkennen und Meiden oder Abwehren der Gefahr, der Mut und die Kampfluſt, welche die wilden Schafe zeigen, gehen bei den zahmen unter; ſie ſind eigentlich das gerade Gegenteil von ihren freilebenden Brüdern. Dieſe erinnern noch vielfa<h an die munieren, Élugen, gewe>ten und übermütigen Ziegen: denn ſie ſtehen ihnen in den meiſten Eigenſchaften und Fertigkeiten gleih und haben denſelben regen Geiſt, dasſelbe lebhafte Weſen; die zahmen ſind einfältige Geſchöpfe und können wahrhaftig nur den Landwirt begeiſtern, welher aus dem wertvollen Vließe guten Gewinn zieht. Charakterloſigkeit ohnegleichen ſprit ſi< in ihrem Weſen und Gebaren aus. Der ſtärkſte Widder weicht feig dem fleinſten Hunde; ein unbedeutendes Tier kann eine ganze Herde erſhre>en; blindlings folgt die Maſſe einem Führer, gleihviel ob derſelbe ein erwählter iſt oder bloß zufällig das Amt eines ſolchen bekleidet, ſtürzt ſi< ihm na<h in augenſcheinlihe Gefahr, ſpringt hinter ihm in die tobenden Fluten, obgleih es erſihtlih iſt, daß alle, welhe den Saß wagten, zu Grunde gehen müſſen. Kein Tier läßt ſich leiter hüten, leichter bemeiſtern als das zahme Schaf; es ſcheint ſi zu freuen, wenn ein anderes Geſchöpf ihm die Laſt abnimmt, für das eigene Veſte ſorgen zu müſſen. Daß ſolche Geſchöpfe gutmütig, ſanft, friedlih, harmlos ſind, darf uns niht wundern; in der Dummheit begründet ſih ihr geiſtiges Weſen, und gerade deshalb iſt das Lamm nicht eben ein glü>lih gewähltes Sinnbild für tugendreiche Menſchen. Fn den ſüdlichen Ländern, wo die Schafe mehr ſih überlaſſen ſind als bei uns, bilden ſich ihre geiſtigen Fähigkeiten anders aus, und ſie erſcheinen ſelbſtändiger, kühner und mutiger als hier zu Lande.

Die Vermehrung der Schafe iſt ziemlih bedeutend. Das Weibchen bringt nach einer Tragzeit von 20—25 Wochen 1 oder 2, ſeltener 3 oder 4 Junge zur Welt, welche bald nach ihrer Geburt im ſtande ſind, den Alten na<hzufolgen. Die wilden Mütter verteidigen ihre Jungen mit Gefahr ihres Lebens und zeigen eine außerordentliche Liebe zu ihnen: die zahmen ſind ſtumpf gegen die eigenen Kinder, wie gegen alles übrige und gloßen den Menſchen, welcher ihnen die Lämmer wegnimmt, unendlih dumm und gleichgültig an, ohne ſich zu wehren. Nach verhältnismäßig kurzer Zeit werden die Jungen ſelbſtändig und bereits vor ihrem erfüllten erſten Lebensjahre ſelbſt wieder fortpflanzungsfähig.

Faſt alle wilden Arten laſſen ſih ohne erhebliche Mühe zähmen und behalten ihre Munterkeit wenigſtens durc einige Geſchlechter bei, pflanzen ſich au< regelmäßig in der Gefangenſchaſt fort. An Leute, welche ſich viel mit ihnen abgeben, ſchließen ſie ſi innig an, ſolgen ihrem Rufe, nehmen gern Liebkoſungen entgegen und können einen ſo hohen Grad von Zähmung erlangen, daß ſie mit anderen Haustieren auf die Weide geſandt werden dürſen, ohne günſtige Gelegenheiten zur Wiedererlangung ihrer Freiheit zu benugen. Die zahmen Schafe hat der Menſch, welcher ſie ſeit Jahrtauſenden pflegte, ihres hohen Nußens wegen über die ganze Erde verbreitet und mit Erfolg auh in ſolchen Ländern eingeführt, welche ihnen urſprünglih fremd waren.

An die Spitze der zu ſchildernden Wildſchafe ſtellen wir eine Art, welche wegen des Mangels der Thränengruben und des no< wenig entwi>elten Gehörnes an die Ziegen erinnert: das Mähnenſchaf (Ovis tragelaphus, Ammotragus tragelaphus), ein wegen ſeiner lang herabfallenden Mähne ſehr ausgezeihnetes Tier. Der Bau iſt gedrungener als bei den meiſten übrigen Schafen, der Leib ſehr kräftig, der Hals kurz, der Kopf geſtre>t, aber zierlih, an der Stirn breit, nah der Muffel zu gleihmäßig verſ<hmächtigt, der Naſenrüden gerade, das Auge groß und wegen der erzfarbenen ris, aus welcher der quergeſtellte Stern deutlich hervortritt, ungewöhnlih lebhaft, das Ohr flein, ſ<hmal und von beiden