Brehms Tierleben eallgemeine Kunde des Tierreichs : mit 1800 Abbildungen im Text, 9 Karten und 180 Tafein in Farbendruck und Holzschnitt 3

Bewegungen. Lebensäußerungen. 23

außergewöhnliche Lebenszähigkeit im Einklange ſteht. Boyle brachte eine Viper unter die Luftpumpe und leerte die Luft aus; ihr Körper und Hals blähten ſih auf, die Kinnladen öffneten ſi, die Stimmrige ſtand bis an den Rand der Unterkinnlade vor, und die Zunge wurde weit ausgeſtre>t. Eine halbe Stunde nach Beginn dieſer Tierquälerei bemerkte man noh Lebenszeichen. Als 23 Stunden ſpäter die Luft zugelaſſen wurde, \<loß die Viper das Maul und öffnete es wieder, und wenn man ſie in den Schwanz kneipte, bewegte ſie ſich no< etwas. Eine Natter lebte im luftleeren Raume über 11 Stunden. Ähnliche Ergebniſſe erzielte man dur< andere Verſuche: Schildkröten, die man des Kopfes beraubte, bewegten noh nah 11 Tagen die Glieder. Eins dieſer Tiere, dem man Bauchpanzer, Herz und alle Eingeweide weggenommen hatte, kehrte ſich am anderen Tage von ſelbſt um und froh davon. Alle dieſe Verſuche beweiſen, daß das Hirn der Kriechtiere die Thätigkeit des Leibes niht in demſelben Grade regelt, wie dies bei den höheren Tieren der Fall, daß im Gegenteile jedes Glied mehr oder weniger von dem anderen unabhängig iſt. Hiermit hängt die Crſaßfähigkeit unſerer Tiere zuſammen. Eidechſen, denen man den Schwanz abhaut, erſeßen ihn wieder, und Wunden, die höheren Tieren unbedingt tödlich ſein würden, heilen bei ihnen. Bei der Neubildung des Cidecſenſhwanzes wird nah P. Fraiſſe das dünne, neu hervorwahſende Rü>kenmark von einer Knochenſcheide umgeben, um welche ſih kleine Blutgefäße und viele Nerven anordnen. Während die Schuppen beim Keimlinge aus Hautwärzchen entſtehen, bilden ſi auf dem neu zu erſegenden Schwanze Längsrinnen, in welchen die Neubildung der Schuppen ſtattfindet. Der urſprünglich in der Oberhaut lagernde Farbſtoff wandert ſpäter in die Lederhaut ein. Überhaupt iſt nach dieſem Gewährsmanne die Neuerzeugung niht dur geſteigerte Zufuhr von Nahrungsmaterial und nicht durch die Wegnahme etwa des Wachstumswiderſtandes zu erklären, ſondern ſie iſt eine Vererbungserſcheinung, bei wel<her beſondere und oft ſehr verwi>elte Anpaſſungen der Gewebe mitwirken und ebenſo das Geſet, daß Gewebe auf Koſten anderer Gewebe erzeugt werden können. Keine Eidechſe hat es übrigens in ihrer Gewalt, den Schwanz willkürlich abzubrechen oder abzuwerfen und ſih ſo ſelbſt zu verſtümmeln; es gehört dazu ſtets ein äußerer Eingriff.

Jede Lebensthätigkeit der Kriechtiere ſteigert ſih mit der zunehmenden Außenwärme; daher iſt dieſelbe Schlange an einem heißen Sommertage eine ganz andere als an einem fühlen. Die Werkzeuge der Atmung und des Blutumlaufes vermögen niht, dem Kriechtiere innere Wärme zu geben; deshalb eben iſt es von der äußeren mehr oder weniger abhängig. Es nimmt ſie in ſi< auf, in ihr erlebt es, und ob auch ſeine Bede>ungen, ſein Panzer, ſeine Schuppenhaut ſo heiß werden ſollten, daß dieſe bei Berührung unſere Hand brennen, es bewahrt ſie ſi<h geraume, man<hmal auffallend lange Zeit, und es gibt ſie nah und nah wieder ab, bis das Gleichgewicht zwiſchen ihr und der Eigenwärme wiederhergeſtellt worden iſt. Kriechtiere, die ſi<h dur< Beſonnung äußerlich und innerlih erwärmen, um nicht zu ſagen durchheizen ließen, fühlen ſich no<h lange, nahdem die Sonne verſ<wunden iſt, warm an; ihre Wärme aber ſinkt im Laufe der Nacht doch auf die der Luft herab und mindert ſi< ebenſo im Laufe des Herbſtes oder der kühler werdenden Fahreszeit, wie ſie im Frühlinge und Sommer nah und nah zugenommen hatte. Dies erklärt es auch, daß alle diejenigen Arten, welche kältere Gegenden bewohnen, während der Wintermonate ſi< zurü>ziehen, in Erſtarrung fallen oder einen Winterſchlaf halten müſſen: die Kälte würde ſie vernihten, wollten ſie ſih ihr ausfeßen.

Schon aus den bisher gegebenen Mitteilungen läßt ſi folgern, daß die geiſtigen Fähigfeiten der Kriechtiere überaus gering ſein müſſen. Ein Geſchöpf, in deſſen Körper das Hirn ſo wenig zur Herrſchaft gelangt, kann diejenigen Fähigkeiten dieſes Hirnes, welche wir Verſtand nennen, unmöglich in höherem Grade beſißen. Die geiſtigen Begabungen ſtehen zwar niht im geraden, aber doch in einem gewiſſen Verhältnis zur Größe des Hirnes, und wenn