Brehms Tierleben eallgemeine Kunde des Tierreichs : mit 1800 Abbildungen im Text, 9 Karten und 180 Tafein in Farbendruck und Holzschnitt 3

20 Ein Bli> auf das Leben der Geſamtheit.

man nun weiß, daß das Menſchenhirn ungefähr den 40. Teil von deſſen Körpergewicht beträgt, das Hirn einer Schildkröte aber ſi< dem Gewichte nach zur Leibesmaſſe verhält wie 1: 1850, gewinnt man doch einen Maßſtab zur Schäßung der Fähigkeiten dieſes Tieres. Nicht bloß die geringe Entwielung, die Unvollendung des Hirnes, ſondern au ſeine ge: ringe Maſſe ſtellt die Kriechtiere geiſtig ſo tief. Alle höheren Eigenſchaften ſind bei ihnen im günſtigſten Falle angedeutet, ſie ſelbſt aber mehr oder weniger zu einer willenloſen Maſchine geworden. Kaum Unterſcheidungsvermögen macht ſi bei vielen Mitgliedern der Klaſſe bemerkli<h. Sinnestäuſchungen, mit anderen Worten: mangelhaftes Verſtändnis irgend welchen Reizes von außen her werden bei ihnen häufig beobachtet; nur die einfach: ſten, niederſten Regungen des Geiſtes werden erkenntlich: von eigentlihem Verſtande iſt kaum zu reden. Ein gewiſſer Ortsſinn beſchränkte Erkenntnis des Freßbaren oder Ungenießbaren, des Nüßglichen alſo und des Schädlichen, au<h wohl Erkenntnis des Feindlihen und eine ſinnliche Leidenſchaft endlih: das ſind die Beweiſe der geiſtigen Fähigkeiten. Deren Steigerung innerhalb der äußerlich ſo verſchiedenen Tierreihe iſt höchſt gering. Bildſamkeit des Geiſtes, Anſammeln von einigen Erfahrungen und infolge davon zwe>dienliches Handeln hat man bei den höchſtſtehenden Gliedern beobachtet, eine gewiſſe Fürſorge rüd>ſichtlih der Nachkommenſchaft — meiſt wohl nur Folge eines mit der Geſchle<htsthätigkeit zuſammenhängenden Reizes — bei anderen, Erregbarkeit, die man als Zorn, Bosheit, Tücke gedeutet hat, bei vielen, bewußtes Abwägen der eignen Kraft bei wenigen. Zur Liſt, die durchaus noh nicht als Hochgeiſtigkeit gelten darf, erhebt ſich keines Kriechtieres Geiſt.

Anhänglichkeit an irgend ein anderes Tier, Liebe zum anderen Geſchlehte und ZUL Nachkommenſchaft hat man mehr gerühmt, als man auf Grund vorurteilsfreier Beobachtungen zu thun berechtigt war. Wenn man abſieht von dem Aufſcharren der Löcher zur Aufnahme der Eier oder dem Zuſammentragen von etwas Laub zu gleichem Zwe>e, bemerkt man bei ihnen keine Art von Kunſttrieb, wie er höheren Tieren eigen iſt. Sie lernen, ſih an cinem Orte paſſend einzurihten, indem ſie ſih geeignete Stellen zu ihrem Wohn- oder Nuheſiße erwählen, beiſpiel8weiſe ſi in Löhern, Ritzen und Höhlungen überhaupt anſiedeln; ſie gewöhnen ſi< an eine ſolche Örtlichkeit und ſuchen ſie nach ihren Naubzügen wieder auf: mit dem bewußten Höhlengraben und dem Hängen an ſolchen Wohnungen, wie wir es bei den Säugetieren beobachteten, mit dem Neſtbaue der Vögel kann dies aber kaum verglihen werden, und ebenſowenig darf man die Fürſorge, welche die Kriechtiere für ihre Nachkommenſchaft zeigen, als gleichartig mit dem Fortpflanzungsgeſchäfte der Säugetiere und Vögel anſehen. Bei den höher ſtehenden Wirbeltieren werden die Wohnſiße mit entſchiedener Überlegung ausgewählt: das Kriechtier folgt nur dem jeweiligen Bedürfnis und mat zwiſchen beſſeren und \ſ{hle<hteren Wohnpläßen kaum einen Unterſchied. Scheu und ängſtlih wird es da, wo es Nachſtellungen erfährt, mit der Zeit allerdings auch; aber ſelten oder vielleicht nie lernt es zwiſchen wirklichen und eingebildeten Gefahren unterſcheiden. Ein Menſch, der ſi vollkommen ruhig verhält, erregt ſelbſt bei den höher ſtehenden Arten kaum Beachtung, erſcheint dieſen vielmehr erſt dann als Feind, wenn er ſih bewegt oder ein Geräuſch verurſaht. Die Krokodile im Nil haben eine dunkle Vorſtellung von der Gefährlichkeit des Menſchen gewonnen, unterſcheiden aber den ihnen ungefährlichen Schwarzen durchaus niht von dem Weißen, der keine Gelegenheit vorübergehen läßt, ihnen eine Kugel zuzuſenden, während Säugetiere und Vögel gerade in einer genauen Unterſcheidung dieſer beiden ihre geiſtige Begabung bekunden. Die höheren Tiere ändern ihr Weſen nah den Umſtänden, laſſen ſi< dur< äußere Einwirkungen erregen und zu verſchiedenen Handlungen und geiſtigen Äußerungen beſtimmen, ſind fröhlich, heiter, luſtig, zu Scherz und Spiel aufgelegt oder traurig, verdrießlih, mürriſch, je nah Umſtänden: bei den Kriechtieren iſt dies alles niht der Fall. Keins von ihnen vergnügt