Der Künstler zwischen Westen und Osten

Moderne Lyrik 199

mehr scheint es das Produkt derselben und wird, wenn es mehr sein will, für Lüge gehalten.

Dichten heißt das Wort von seinem Fall erheben: ihm Unschuld geben durch den Reim, ihm Stütz- und Steigekraft verleihen durch die Strophe, ihm Flügel schenken durch den Rhythmus. Der Dichter, der das Wort ernst nimmt, opfert sein Wesen, wenn er Vokale und Konsonanten gestaltet. Er gießt sein ganzes Leben hinein.

Von den Menschen, welche die Sprache zu ihren Zwecken gebrauchen oder mißbrauchen, unterscheidet er sich dadurch, daß er jedes Wort mit Substanz erfüllt. Er schickt es hinaus und weiß, daß es das Seiende verwandelt. Er hat die Gewißheit, daß es das Vergehen aufhält.

Wir müssen, um dieser Kraft der welterneuernden Sprache zu vertrauen, das Wort in seinem Keimzustande erfassen, wo es als Lautform über die Lippen geht. Nicht nur Luftschwingungen sind es, die sich der äußeren Welt mitteilen, sondern Wesen und Gestalten. In diesen Gebilden, die geboren werden, ist der ganze Mensch: der Impuls des Herzens, die Wärme des Blutes, die Kühle des Kopfes, Geste, Schritt und Geschick: Leben und Tod.

Dieses Wort-Wesen ist bei jedem Menschen anders, mag das Gesprochene wörtlich auch dasselbe sein.

Wenn hundert Kinder „danke“ sagen, so ist wohl der Laut mehr oder weniger ähnlich, der Gehalt jedoch verschiedener als die bunten Kleider, die sie tragen.