Der Künstler zwischen Westen und Osten

Moderne Lyrik 209

aber niemals ist er so zu Stimme gekommen wie heute, und soll Dichtung heute überhaupt noch einen Sinn haben neben der Literatur (das wird ja oft bezweifelt), so muß es der sein: die Bewahrung der in der Sprache beschlossenen, kosmischen Kräfte, des menschlichen Seelenblutes, vor dem seelenlosen Geschwätz, der papiernen Reflexion und der feilen Begehrlichkeit entgeisterter Mengen und spielerischen Gesindels. Diese Bewahrung ist wichtiger als aktuelle Probleme (die bieten Presse und Parlament), wichtiger als originelle Gedanken (die bieten Katheder und Cafe), wichtiger als farbige Bilder (die bieten Theater, Zirkus und wortloses Kino). Doch nur der Dichter heiligt und sichert heute noch die Sprache, das Blut und Feuer des Menschtums, und nur Stefan George unter den heutigen Dichtern ist sich der Schwere und Verantwortung dieser Pflicht ganz bewußt. Alle anderen liebäugeln mit den sprachzerstörenden, das heißt seelezerstörenden Mächten der Zeit.“

George steigert sich, indem er sich über andere stellt. Aber seine Kraft strömt nicht zu jenen zurück, die unter ihm stehen. Er birgt die Goldkraft der Sonne in sich, aber abgeschlossen.

Von ihm verschieden wie ein Nachkomme Abels von einem solchen Kains ist Rainer Maria Rilke. George unterwirft. Rilke gibt sich hin. George ist ganz Struktur. Rilke ganz Fließen. George Fels. Rilke Welle.

Im kürzesten Liebesgedicht Georges ist noch die Linie, die wir in seinen strengen Weihestrophen finden. Sein Lied bleibt, trotz der verborgenen Leidenschaft,