Die Physiognomie des Menschen

Vorhalle

Bekanntlich sind einige berühmte und hervorragende Philosophen der Ansicht, daß kein Tier geselliger sei als der Mensch. Wer die Charaktere seiner Umgebung erkennen oder deren geheimste Eigenschaften denkend durchforschen und vergleichen will, muß entweder sein ganzes Leben darauf verwenden oder wird immer wieder betrogen werden, da der meisten Menschen Freundschaft verderblicher ist als vieler, selbst mächtiger Menschen Feindschaft. Denn die Gesinnung des Menschen wird, wie M. Tullius Cicero schreibt, von vielen Hüllen der Heuchelei verdeckt, und wie mit Schleiern ist eines jeden Natur verhängt: es lügen die Stirn, die Augen, das Gesicht, am meisten aber die Worte. In der Menschengestalt, sagt Seneca, steckt ein tierischer Sinn, schreclicher noch und furchtbarer als bei wilden Tieren. Sokrates wünschte sich daher ein Fenster in der Brust des Menschen, damit sich nichts Heimliches verbergen könne, sondern jeder Wille und Gedanke, bis ins Innerste erschlossen und aufgetan, offenbar werde. Diesem Übelstand kam die erhabene Wissenschaft der Physiognomik zu Hilfe, die von den besten Männern überall mit höchstem Eifer und größter Genauigkeit studiert wurde und auf Grund äußerer Körpermerkmale Art, Charakter und Absichten der Menschen gleichsam bis in den tiefsten Seelenwinkel und die letzte Herzfaser aufdeckt. Die Güte eines geneigten Gottes ließ also geheime Bräuche und verborgene

22