Die Physiognomie des Menschen

cher Zweite könnte also reden als der Sproß des herrlichen Odysseus?“ Alexander der Große verbot den Durchschnittskünstlern, sein Bild mit ihren Werken zu entweihen, und Horaz sagt: „Niemand durfte es malen außer Apelles, niemand außer Lysipp in Erz gestalten das hehre Gesicht Alexanders“, damit in den Statuen, Bildern und Reliefs in gleicher Weise sein starker, kriegerischer Sinn, sein hoher ehrenhafter Geist, die Rüstigkeit seiner Jugend und die Anmut seiner erhabenen Stirn offenbar werde. Unsere Wissenschaft wird nicht nur für den Anblick anderer, sondern auch unser selbst von größtem Vorteil sein können, sodaß wir gleichsam unsere eigenen Deuter werden. Und so finden wir in alten Schriften erwähnt, der Philosoph Sokrates habe einen Spiegel als Erziehungsmittel gebraucht. Auch Seneca überliefert dieselbe Lehre, der Mensch solle sich selbst ansehen, denn so komme er zu Selbstkenntnis und eigener Einsicht. Wer sich im Spiegel betrachtet und einen schönen Körper erblickt, wird Sorge tragen, die körperliche Anmut nicht durch seelische Häßlichkeit zu entweihen, wer aber aus seiner Körpergestalt eine keineswegs als Empfehlung dienende Seele erschließt, wird eifrig bemüht sein, die Nachteile des Körpers durch seelische Erstarkung aufzuheben. Denn die Triebe und Leidenschaften der Seele, Wehleidigkeit, Jähzorn, Neid usw., sind auch bei ungünstiger Körperbeschaffenheit zu veredeln: so berichtet Cicero, daß Sokrates den Zopyrus, der sich erboten hatte, eines Jeden Charakter aus seiner Gestalt zu deuten, und der ihm öffentlich viele Laster angehängt hatte, gegen das Gelächter der anderen, die diese Fehler bei Sokrates nicht kannten, in Schutz nahm, indem er das Vorhandensein einer Anlage zu diesen Lastern zugab, die er lediglich durch seine Willensanstrengungen überwunden habe. Eine ähnliche Geschichte berichtet Aristoteles von Hippokrates®), dessen auf Wunsch seiner Schüler gemaltes und gut gelungenes Konierfei Philemon gezeigt wurde; dieser

25