Die Physiognomie des Menschen

1. Kapitel:

Über die Wechselbeziehungen zwischen Körper und

Seele.

Die Erfahrung lehrt, daß einerseits die Seele von Körperbewegungen nicht unbeeinflußt bleibt und daß andererseits der Körper von seelischen Leidenschaften mitgenommen wird, daß also Körper und Seele einander stören oder ergänzen und wechselseitig an einander leiden. Jeder weiß, daß der Geist bei körperlichen Krankheiten mit dem Körper leidet und aus der Fassung kommt, daß er z. B. in der Trunkenheit von seinen geraden und angemessenen Wegen abgedrängt wird, daß er bei akuten Krankheiten geradezu verwirrt wird und nicht mehr seine Pflicht tut, sodaß der Mensch wie ein Irrsinniger erscheint. Ebenso wankt der Körper in den Stürmen der Seele: vom Brand der Liebe entzündet und aufgebracht, verändert sich der Körper bis zum Siechtum. Virgil singt von Dido: .„Gänzlich verstandesberaubt rast sie entflammt durch die Stadt, schwärmend wie Thyas, erregt vom leidenschaftlichen Fest.“ Die Stiefmutter des Apulejus, die toll verliebt war in ihren Stiefsohn, wird also beschrieben: Entstellende Blässe, eingefallene Augen, schlaffe Knie, ruhig und unruhig zugleich, ein feuriger Geist, von Hemmung gequält. Dasselbe kann man bei Tieren beobachten, an denen die Brunst zehrt. Virgil schreibt: „Langsam schwinden die Kräfte vor Brunst nach Besitz eines Weibchens, und die Erinnerung stirbt an Wälder und Kräuter und Wiesen.“ Heftige Mißgunst bringt

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