Die Physiognomie des Menschen

11. Kapitel: Widerlegung Philons; die Beurteilung des Charakters aus dem Antlitz.

Philon aus Lakedämon, der lediglich aus dem Gesichtsausdruck der Menschen ihren Charakter erkennen wollte, wird von Aristoteles folgendermaßen widerlegt: Der Starke und der Unverschämte haben beide durchweg das gleiche Gesicht; dieser tut alle Scheu von sich, jener alle Furcht, beide sehen trutzig aus. Wenn nun der Charakter allein im Antlitz sich offenbarte, wie sollte man dann zwei so verschiedene und entgegengesetzte Figenschaften wie Stärke und Unverschämtheit erkennen können? Ferner, wenn man den Gesichtsausdruck als immer und jederzeit stimmendes Kennzeichen der menschlichen Art annimmt, so müßte eine heitere Natur stets eine lachende Stirn zeigen und dürfte niemals einen verdrießlichen und traurigen Tag haben, ein trauriger Mensch wiederum dürfte niemals einen frohen, singenden Tag erleben. Es gibt nur sehr wenige Eigenschaften, die man aus dem Gesichtsausdruck allein erkennen kann; Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Scharfsinn z. B. können gar nicht auf diese Weise erkannt werden. Die Regel Philons stimmt also nicht immer; und doch kann sie uns von großem Nutzen sein, wenn wir neben dem Gesichtsausdruck sorgsam erkunden, ob noch andere, mit ihm übereinstimmende Zeichen vorhanden sind, und uns nicht durch ein einzelnes Merkmal täuschen lassen, wie eben gezeigt wurde. Polemon sagt hierüber: Es ändert sich die Gestalt der Menschen bei großer Freude oder bei Schmerz oder Zorn oder Furcht oder, wenn sie satt oder hungrig sind oder heftige Begierde nach etwas haben oder von etwas gefesselt werden oder scharf angesehen werden oder genau auf etwas horchen; zwar wird nicht die Gestalt als solche verändert, sie bleibt unverrückt und unbewegt, aber die einzelnen Merkmale wandeln sich, nicht in gleicher Weise bei allen, sondern

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